150 Jahre Wiener Staatsoper: «Nun will ich jubeln, wie keiner gejubelt»

Inmitten der jüngsten Staatskrise in Österreich begeht die Wiener Staatsoper ihr 150-jähriges Bestehen – mit einer Neuinszenierung der «Frau ohne Schatten» von Richard Strauss, die das Beharrungsvermögen und das Niveau des Hauses beispielhaft vor Ohren führt.

Christian Wildhagen, Wien
Drucken
Tückischer Handel: Die Amme (Evelyn Herlitzius, links) und die Kaiserin (Camilla Nylund) versuchen der vom Leben frustrierten Färberin (Nina Stemme, rechts) ihren Schatten – vulgo: ihre Fruchtbarkeit – abzuschwatzen. (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Tückischer Handel: Die Amme (Evelyn Herlitzius, links) und die Kaiserin (Camilla Nylund) versuchen der vom Leben frustrierten Färberin (Nina Stemme, rechts) ihren Schatten – vulgo: ihre Fruchtbarkeit – abzuschwatzen. (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Die Lage in Österreich sei hoffnungslos, aber nicht ernst, lautet ein etwas kurioser Ausspruch, der in der Alpenrepublik – wen wundert’s – gerade wieder in aller Munde ist. Er taucht in Wien erstmals um 1919 auf und wird wahlweise den Spöttern Karl Kraus oder Alfred Polgar zugeschrieben. Vermutlich ist beides falsch, aber das Lebensgefühl in der untergegangenen Donaumonarchie traf der Satz damals so vorzüglich, wie er die Gemütslage jetzt, anno 2019, nach dem Sturz des jüngsten Herrschers im Staate umschreibt.

Die angeblich typisch wienerische Nonchalance, die in dem Bonmot zum Ausdruck kommt, offenbart das in unserem Nachbarland von jeher ausgeprägte Bewusstsein, dass es jenseits der Tagespolitik etwas Höheres und Bleibendes gibt, das noch immer alle Stürme – seien es Weltkriege oder bloss die allgegenwärtigen Affären – unbeschadet überstanden hat, nämlich: Kultur. Und im Zentrum dieser zutiefst romantisch-nostalgischen Vorstellung von der Überlegenheit der Kunst über die Unbilden des Lebens steht seit eh und je die Wiener Staatsoper, die just dieser Tage ihr 150-jähriges Bestehen feiert.

In keinem anderen Land wäre diese Koinzidenz der Rede wert; hier jedoch, wo die Amtsführung des jeweiligen Hof- und Staatsoperndirektors seit den Tagen Gustav Mahlers und Herbert von Karajans mindestens die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit geniesst wie diejenige des gerade am nahen Ballhausplatz waltenden Kanzlers, wird solch ein Jubiläum wiederum selbst zum Politikum: zu einer Demonstration des Beharrungs- und Überlebenswillens, mag es ringsherum auch noch so puffen und knallen.

Ein neuer «Frosch»

Das war schon immer so – schon 1945, als man den Spielbetrieb bereits im Mai ersatzweise in der Volksoper fortsetzte; schon 1955, als man, politisch schlingernd zwischen Ost und West, den zerbombten Musentempel an der Ringstrasse schneller und prachtvoller wiedererrichtet hatte, als es den meisten Theatern in Deutschland vergönnt war. Und sogar schon 1919, als man das morsche «Kakanien» soeben endgültig zu Grabe getragen hatte: In dem Jahr feierte, allem Elend zum Trotz, die anspruchsvollste und aufwendigste aller Opern von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal Premiere am Ring.

Die «Frau ohne Schatten» ist bis heute die gewichtigste Novität in der langen Reihe der Uraufführungen an dem Haus geblieben. So lag es nahe, das nunmehr jüngste Jubiläum mit einer Neuproduktion des schwierigen Stückes zu begehen – einer Aufführung, die den kulturellen Führungsanspruch der Institution erneut unter Beweis stellen und überdies jene Kritiker Lügen strafen sollte, die in dem ersten der drei Wiener Häuser seit Jahrzehnten bloss noch ein hoch subventioniertes Opernmuseum für den ausufernden Massentourismus erblicken.

Sehnsucht nach einem anderen Leben: die Färberin (Nina Stemme). (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Sehnsucht nach einem anderen Leben: die Färberin (Nina Stemme). (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Zumindest musikalisch löst der neue «Frosch» (wie Strauss und Hofmannsthal selbst ihr Riesenwerk in ironischer Verkürzung nannten) diesen Anspruch voll und ganz ein, und zwar in einer Weise, die sogar für dieses Haus alles andere als alltäglich ist. Das ist in erster Linie dem schlechthin überragenden Dirigat von Christian Thielemann zu verdanken, der das Staatsopernorchester – aus dem sich traditionell die Wiener Philharmoniker rekrutieren – zu einem Höhenflug sondergleichen anspornt.

Thielemann verfolgt an diesem Abend einen Kurs der Entschlackung und «Entdämonisierung» der gewaltigen Strauss-Partitur weiter, mit dem er ähnlich bereits bei den Salzburger Osterfestspielen Wagners «Meistersinger» vom lähmenden Ballast der kontroversen Rezeptionsgeschichte befreit hatte. Beim «Frosch» ist dies weniger eine politische Bürde als vielmehr eine dem Werk selbst innewohnende Problematik.

Sie beginnt bei der Idee der beiden Autoren, Mozarts kristallines «Zauberflöten»-Märchen zu einem schon 1919 leidlich anachronistisch und hypertroph anmutenden Weltversöhnungsmysterium auszubauen; und sie endet noch lange nicht bei den utopischen Ansprüchen an die Sänger, die in ihren komplexen Partien obendrein gegen eine entfesselte Hundertschaft im Graben anzukämpfen haben.

Thielemann zieht daraus eine naheliegende, in der Praxis aber unendlich schwer umzusetzende Konsequenz: Er mässigt den Ton, fast bis zum Understatement. Ihm gelingt auf diese Weise das vermutlich leiseste und poetischste Strauss-Dirigat seit Jahrzehnten: So reich, so sprechend, so betörend klangsinnlich hat das Stück nicht einmal unter dem Strauss-Adlatus Karl Böhm oder späteren grossen «Frosch»-Deutern wie Wolfgang Sawallisch und Georg Solti geklungen. Zumal Thielemann den Mut besitzt, das gut vierstündige Werk auch live ohne alle Striche in seiner ganzen märchenhaften Weltentrücktheit (und sogar mit dem heiklen Melodram der Kaiserin im dritten Akt) zu präsentieren.

Moderne Themen ohne Überbau

Die Kehrseite ist – wie schon bei den Salzburger «Meistersingern» – eine Einbusse an unmittelbarer dramatischer Spannung. Doch das ist leicht zu verschmerzen, eröffnet der episch-detailgenaue Ton doch den Sängern überhaupt erst Freiräume, um ihre Partien entsprechend feinsinnig und fast ohne Ermüdungserscheinungen zu gestalten. Dies nutzen vor allem Nina Stemme als herrlich selbstbewusste Färberin (ohne das in dieser Rolle berüchtigte «Keifen») und Camilla Nylund als ätherische Kaiserin des Geisterreichs, deren symbolische Frau- und Menschwerdung hier ganz aus der Musik heraus bezwingend gelingt.

Um selbst Mutter zu werden, muss die Kaiserin (Camilla Nylund) ihr Dasein als «Frau ohne Schatten» und das Geisterreich hinter sich lassen. (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Um selbst Mutter zu werden, muss die Kaiserin (Camilla Nylund) ihr Dasein als «Frau ohne Schatten» und das Geisterreich hinter sich lassen. (Bild: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper)

Während Stephen Gould der sinnbildlichen Versteinerung des Kaisers leider auch vokal Tribut zollt, behält sogar Evelyn Herlitzius ihre stimmlichen Mittel so vorbildlich unter Kontrolle, dass aus der mephistophelischen Amme eine anrührend zerrissene Gestalt wird. Und Wolfgang Koch trägt als geplagter Färber Barak buchstäblich alle Last dieser Welt.

Gemeinsam, als grossartig geschlossenes Ensemble, erzählen sie von durchaus modernen Themen wie Vertrauen, Liebesverlust, existenzieller Vereinsamung und Verzeihen, ohne sich allzu sehr vom erdrückenden Ideenüberbau der Oper mit ihrer Hymne auf Mutterschaft und Fortpflanzung beengen zu lassen. Diese Auseinandersetzung verweigert auch die weithin unfallfreie, aber erschütternd eindimensionale Inszenierung des Chéreau-Schülers Vincent Huguet. Doch auch das hat Tradition an diesem Haus, und der Jubel ist am Ende grenzenlos.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

Weitere Artikel