Lasset die Kindlein kommen: Stockhausens «Licht» leuchtet in Amsterdam

Eine Gesamtaufführung von «Licht», dem Opus summum des musikalischen Visionärs Karlheinz Stockhausen, wäre doppelt so lang wie Wagners «Ring». Das Holland Festival wagt jetzt ein dreitägiges «Best-of» und stellt die Wirkungsmächtigkeit des Mammutwerks unter Beweis.

Michael Stallknecht, Amsterdam
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Sie setzen einen ganzen Kosmos in Musik, den Weltraum durchaus eingeschlossen: Szene aus der Amsterdamer «Licht»-Produktion. (Bild: Ruth & Martin Walz, Dutch National Opera)

Sie setzen einen ganzen Kosmos in Musik, den Weltraum durchaus eingeschlossen: Szene aus der Amsterdamer «Licht»-Produktion. (Bild: Ruth & Martin Walz, Dutch National Opera)

Am dritten Tag dürfen endlich die Helikopter steigen. Die vier Damen des Pelargos Quartet fliegen in jeweils einem von ihnen über Amsterdam, während drunten auf der Erde die Klangregie ihre Stimmen mit den Rotorgeräuschen zum ungewöhnlichsten Streichquartett der Musikgeschichte abmischt. Das «Helikopter-Quartett» gehört zu den Stücken, die den Namen seines Urhebers für eine ungewohnt breite Öffentlichkeit fast schon zum Synonym für Neue Musik werden liessen – nicht selten verbunden mit der Frage, ob hier noch Genie oder doch schon Wahnsinn am Werke sei.

Dabei ist das ratternde zwanzigminütige Klangereignis nur ein sehr kleiner Teil aus einem Zyklus von insgesamt 29 Stunden Länge, an dem Karlheinz Stockhausen von 1977 bis 2003 arbeitete – um nicht weniger als den ganzen Kosmos in Musik zu setzen, den Weltraum durchaus eingeschlossen. Monoman und mythoman wie zuvor allenfalls der geistesverwandte Richard Wagner widmete er in «Licht» jedem Tag der Woche eine eigene Oper, musikalisch entwickelt aus einer einzigen «Superformel», szenisch aus den drei mythologisch grundierten Prinzipien Michael, Eva und Luzifer, die sich in mehrfacher Gestalt von Sängern, Instrumentalisten, Tänzern, aber auch von ganzen Chören und Orchestern bekämpfen und doch aufeinander angewiesen bleiben.

Der Plan, das Gesamtwerk in sieben eigens konstruierten Festspielhäusern an seinem Wohn- und Arbeitsort Kürten zur Aufführung zu bringen, scheiterte schon vor Stockhausens Tod im Jahr 2007. Und bis heute ist eine vollständige Aufführung von «Licht» die wohl letzte grosse Utopie der Musikgeschichte geblieben.

Bis in die letzte Kniedrehung

Nach der postumen Uraufführung des «Sonntags» und des «Mittwochs» wurde vor allem der «Donnerstag» – unter anderem 2016 in einer vielbeachteten Basler Produktion – mehrfach szenisch realisiert, während mindestens Teile der einzelnen Tage mehr oder minder konzertant häufiger bei Musikfestivals zu hören sind. Inzwischen hat immerhin das Ensemble Le Balcon mit einer sukzessiven Gesamtdarstellung begonnen, die Ende dieses Monats in Paris mit dem «Samstag» fortgesetzt wird.

Der Idee einer zyklischen Gesamtaufführung ist nun das Holland Festival gleichwohl deutlich nähergekommen. In Koproduktion mit der Niederländischen Nationaloper und dem Königlichen Konservatorium Den Haag sind derzeit in dreimal drei Tagen mit klug ausgewählten Ausschnitten aus den einzelnen Tagen immerhin fünfzehn Stunden und damit die Hälfte des Zyklus zu erleben.

Das Haager Konservatorium stellte nicht nur kostensparend diverse Orchesterformationen, sondern richtete auch eigens einen zweijährigen Masterstudiengang für die Solo-Instrumentalisten und die Sound-Ingenieure ein. Unterrichtet wurden sie neben vielen anderen mit den Uraufführungen vertrauten Musikern vor allem von Kathinka Pasveer, der Flötistin, Muse und Nachlassverwalterin Stockhausens, um nicht nur die horrenden spieltechnischen Herausforderungen meistern zu können, sondern daneben auch noch das Bewegungs- und Gestenrepertoire, das Stockhausen gern bis in die letzte Kniedrehung hinein vorschrieb.

Jenseits der klassischen Repräsentation und ohne geschlossene Dramaturgie entsteht Musik damit im Amsterdamer Gashouder direkt aus der szenischen Aktion der Sänger und Instrumentalisten, wenn ganze Infanterieabteilungen von Trompetern und Posaunisten sich im «Dienstag» einen Krieg inmitten der Zuschauer liefern; oder wenn Michael in seiner Gestalt als Trompeter im «Samstag» auf hohem Podest in den Kampf gegen ein infernalisches Blasorchester auf mehreren Höllenkreisen beziehungsweise Podest-Ebenen zieht.

Der Amsterdamer Gashouder ist ein idealer Aufführungsort für Stockhausens megalomanes Gesamtkunstwerk. (Bild: Ruth & Martin Walz)

Der Amsterdamer Gashouder ist ein idealer Aufführungsort für Stockhausens megalomanes Gesamtkunstwerk. (Bild: Ruth & Martin Walz)

Der in mehrere Richtungen bespielbare Gasometer eines ehemaligen Gaswerks ist dafür zweifellos der ideale Ort. Mit seinem gewaltigen Betonrund selbst schon eine Art Kosmos bildend, füllt er sich vor allem mit den zwei zentralen Parametern: dem Klang und dem titelgebenden Licht. Fast einhundert konzentrisch angeordnete Lautsprecher lassen den Hörer auch in den vielen rein elektronischen Passagen regelrecht im Klang versinken, während Lichtdesigner Urs Schönebaum den Raum in die unterschiedlichsten, von Stockhausen synästhetisch mit den Tagen und Figuren verbundenen Farben taucht.

Stockhausens «Neu-Bayreuth»

Ohne eine überdimensionierte Ausstattung kann sich der Regisseur Pierre Audi darin ganz auf die Aktion konzentrieren. Dabei setzt er Stockhausens Bewegungsrepertoire zwar texttreu um, leugnet auch nicht die spirituelle Dimension, die der Komponist in seinem ziemlich deutschen Drang zum metaphysischen Weltengrund dem Zyklus einschrieb. Aber er lässt weg, was der Rezeption heute als allzu zeitgebunden im Weg stehen müsste.

Stockhausen wird sozusagen entrümpelt, wie es etwa Wieland Wagner als Regisseur beim Werk seines Grossvaters Richard in der Nachkriegszeit tat. Und ebenso wie seinerzeit in «Neu-Bayreuth» entfaltet sich hier eine unmittelbare theatrale Kraft, die sich in reinen CD-Einspielungen der Werke kaum vermittelt. Ganze Chöre werden zu Klang-Akteuren, wenn sie in den «Engel-Prozessionen» des «Sonntags» in konzentrischen Kreisen um die Zuschauer herum zur Mitte ziehen oder im «Weltparlament» aus dem «Mittwoch» in den ungewöhnlichsten Sprachen und Lauten über die Weltordnung debattieren. Der Niederländische Kammerchor, die Cappella Amsterdam und mehrere Kinder-, Knaben- und Mädchenchöre liefern hier immer wieder brillante Beispiele der experimentierfreudigen niederländischen Chorkultur.

Mit kindlichem Ernst und höherem Sinn: Szene aus der Amsterdamer «Licht»-Produktion. (Bild: Ruth & Martin Walz, Dutch National Opera)

Mit kindlichem Ernst und höherem Sinn: Szene aus der Amsterdamer «Licht»-Produktion. (Bild: Ruth & Martin Walz, Dutch National Opera)

Woher die theatrale Energie letztlich kommt, deuten die vier variabel im Raum positionierten Videoleinwände an, auf denen Robi Voigt und Chris Kondek atmosphärische und die Spielorte andeutende Bilder beisteuern. Zu Beginn jedes der drei Aufführungstage zeigen sie Kinder, die sich verkleidend und malend Stockhausens mythologische Figuren erobern. Der megalomane Zyklus erweist sich hier vor allem als die Welt eines grossen Kindes, das mit allem spielte, was es eben bekommen konnte. Dass Helikopter Piloten brauchen, damit sie fliegen, war dem grossen Kind Stockhausen dabei völlig egal.

Klavierspielender Wellensittich

Überhaupt stösst Stockhausen das eigene Spiel gern einmal um und fährt danach ungehemmt anders fort, wenn etwa der einkomponierte Hausmeister die Debatte des Weltparlaments unterbricht, um einen Falschparker auszurufen (weshalb der Chor danach ohne den im Halteverbot stehenden Dirigenten auskommen muss). Dafür kann sich in «Licht», wie im Märchen, alles in alles verwandeln. So tauschen die drei Hauptfiguren, antiken Göttern gleich, ständig die Gestalt, aber auch schlichte Orchesterposaunisten können ebenso zu Abgesandten des Teufels werden, wie sich elektronische Klänge flugs in live spielende Musiker verwandeln.

Man spürt dieses Moment besonders dort, wo in den Auszügen aus «Montag» tatsächlich Kinder auf die Bühne kommen. Frisch einer riesigen Vulva entschlüpft, sprechen die sieben Tagesknaben schon perfekt «stockhausensch», singen also ihr Tagesverslein mit einem Ernst, der gleichzeitig Spiel bleibt. Dazu passt, dass der Kostümbildner Wojciech Dziedzic, ebenfalls im nötigen Mass von Stockhausens Vorgaben abstrahierend, das Verkleidungselement betont, wenn etwa im «Samstag» sechs astronautenähnliche Schlagzeuger ihre Instrumente auch auf dem Kopf tragen und Kinderinstrumente spielen.

Auch die Instrumentalisten werden zu handelnden Figuren in Stockhausens «Licht»-Zyklus. Nur der Dirigent steht manchmal im Halteverbot. (Bild: Ruth & Martin Walz, Dutch National Opera)

Auch die Instrumentalisten werden zu handelnden Figuren in Stockhausens «Licht»-Zyklus. Nur der Dirigent steht manchmal im Halteverbot. (Bild: Ruth & Martin Walz, Dutch National Opera)

Die jungen Instrumentalisten, aber auch die von aussen dazukommenden Sänger liefern sich dem kindlichen Ernst der Sache vollständig aus. Dies bringt offensichtlich auch im fortgeschritteneren Alter so brillante musikalische Einzelleistungen hervor wie die des in mehreren Figuren agierenden Pianisten Ivan Pavlov – um unfairerweise nur einen zu nennen. Wenn Pavlov im Kostüm eines klavierspielenden Wellensittichs in die Vulva einfährt, um dort die sieben musikalischen Kinder zu zeugen, wird es schlicht gleichgültig, ob das noch Genie oder doch schon Wahnsinn ist.

«Licht», so lernt man in Amsterdam, bezieht seine Faszination wesentlich daraus, dass es in jedem Moment beides ist. Klarer hätte das Plädoyer kaum ausfallen können, dass eine Gesamtaufführung des Zyklus bald zu unternehmen wäre – auch und gerade weil sie «vollständig» letztlich sowieso nur in der Phantasie stattfinden kann.

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