Mut kann man nicht kaufen, jahrelange Erfahrung und Routine auch nicht: Ausgerechnet am Vorabend der mit Spannung erwarteten Otello-Premiere stemmte die Wiener Staatsoper das Antiken-Spektakel Aida, das neben hochkarätigen Gesangssolisten auch Auftritte von Ballett, Tanzsolisten, erweitertem Chor und Bühnenmusik erfordert. Dazu sind für die von Carlo Tommasi ausgestattete Produktion nach Nicolas Joël dutzende Kostüme vorzubereiten, und die Bühnenarbeiter bauen Riesenkulissen in einer Zeit auf, in der Otto Normalverbraucher wohl nicht einmal einen Boden verlegt bekommt.

Abgesehen davon handelte es sich bei der besprochenen Vorstellung um die erste der aktuellen Serie, für die auch fünf Wiener Rollendebütanten in die Bühnenabläufe einzuweisen waren. Dass unter diesen Bedingungen alles tadellos klappte, nötigt einem Respekt ab und beweist einmal mehr, dass das Repertoiresystem immer noch seine Berechtigung hat. Spontan zu La traviata, Falstaff oder eben Aida und vielen anderen Lieblingsopern? In Wien kann man in einer Saison opernmäßig das erleben, wozu man andernorts Jahre braucht.

Dabei bleibt die Qualität nicht auf der Strecke: von glanzvollen Premieren abgesehen, stößt man auch im Repertoirebetrieb immer wieder auf kostbare Momente. An erster Stelle sei für diese Aida die Leistung des von Marco Armiliato dirigierten Staatsopernorchesters genannt: Unter den eingangs erwähnten Bedingungen gab es wohl wenig Probezeit, dennoch schienen alle hochmotiviert. Insbesondere die Streicher boten an diesem Abend Großartiges; so silbriges Pianissimo, so viel Legato-Kultur täte auch manch anderem Werk gut.

Die herausragende Orchesterleistung sorgte auch dafür, dass die langmächtigen Schreit-, Steh- und Aufmarschszenen, die es in Aida nun eben gibt, nie langweilig wurden. Insofern hat auch die großformatige „ägyptomanische“ Ausstattung immer noch ihre Berechtigung – man könnte sich allein mit dem Bewundern der Kostüme und Kulissen die Zeit vertreiben.

Gesanglich waren an diesem Abend keine Glanzleistungen zu hören, aber von großer Kompetenz zeugte das Gebotene allemal. Den ersten Auftritt hatte natürlich Radames, und an dessen „Celeste Aida“ merkten zumindest geübte Ohren, dass bei Gregory Kunde Legato und Pianissimo schon brüchig werden. Allerdings erlaubt es ihm seine gute Technik, diesen Umstand wesentlich geschickter zu kaschieren, als es den meisten seiner Kollegen gelingt. Nach mehr Aufwärmen in den Ensembleszenen lief er in den dramatischen Stellen sogar zu beachtlicher Form auf.

Elena Guseva gab ihr Wiener Aida-Debüt, und wenn auch bei der Nilarie die Nerven (und ein Spitzenton) ein wenig flatterten, war es doch insgesamt eine ansprechende Vorstellung. Natürlich wünscht man sich gerade für die erwähnte Nilarie viel weniger Vibrato, dafür mehr Schmelz, andererseits: Wo sind denn die Sängerinnen, die derzeit als Aida hundertprozentig zufriedenstellen? Gusevas Darbietung punktete immerhin mit Dramatik, und das insbesondere in der Auseinandersetzung mit ihrem Vater Amonasro. In der Amneris von Ekaterina Gubanova hatte sie eine starke Gegenspielerin, an der ebenfalls die Dramatik (vor allem in der Höhe) gefiel. Im Gegensatz dazu weisen die tiefe und mittlere Lage Verbesserungspotenzial auf, da klingt die Diktion leider verwaschen.

Simone Piazzola verfügt als Amonasro über ein angenehmes Timbre, und darstellerische Fähigkeiten, die Aidas Erzittern vor der Autorität ihres Vaters glaubwürdig machen. Im Gegensatz dazu ist die vokale Autorität Peter Kellners als Ägypterkönig ausbaufähig, wohingegen Jongmin Park als Ramfis einmal mehr seinen Status als „Bass für alle Fälle“ unter Beweis stellte. Allerdings haben Park und Piazzola (neben Kunde und Gubanova) den Vorteil, ihre Partie bereits am Haus gesungen zu haben. Die beiden Rollendebütanten in den kleinen Partien (Lukhanyo Moyake als Bote und Mariam Battistelli als Priesterin) hatten in der überbordenden Szenerie kaum Gelegenheit, Aufsehen zu erregen.

Ganz anders das Werk selbst: Für Opernliebhaber mit Hang zum Grandiosen ist Aida immer ein Erlebnis, dennoch sticht das Kammerspiel zum Schluss die Massenszenen immer wieder aus. Wenn Aida und Radames ihr Leben aushauchen, ist das sogar für Opernverhältnisse besonders rührend. Es kann ein Sommerabend kaum so heiß sein, als dass man dabei nicht doch ein wenig Gänsehaut bekäme.

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