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Kritik – Rihms "Jakob Lenz" am Staatstheater Nürnberg Viel Action – wenig Herz

Er war ein Genie – und ein Wahnsinniger: der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz. Mit seiner persönlichen Leidensgeschichte ist Lenz selbst zur literarischen Figur geworden. Georg Büchner hat in einer Novelle geschildert, wie Lenz in geistige Umnachtung fiel. Aus diesem Stoff hat Wolfgang Rihm vor 40 Jahren eine Kammeroper gemacht, die sich bis heute auf den Spielplänen behauptet. Am 23. Juni ging die Premiere einer Neuinszenierung von Rihms "Jakob Lenz" über die Bühne, diesmal am Staatstheater Nürnberg. Regie führte Tilman Knabe, die musikalische Leitung lag bei Guido Johannes Rumstadt.

Szenenfoto mit Hans Gröning als Jakob Lenz | Bildquelle: Bettina Stöß

Bildquelle: Bettina Stöß

Die Premierenkritik zum Anhören

Jakob Lenz lebt mitten unter uns. Er ist keine ferne Figur der Literaturgeschichte, sondern ein Obdachloser von heute: verfilzte Haare, zerschlissener Mantel, verbeulte Hosen. Er lebt aus Plastiktüten und schläft auf der Straße, zwischen Sex-Shops und Bankautomaten, unter Plakaten, die so tun, als könne man das Glück kaufen. Kein Irrer, sondern einer, der irre geworden ist an unserer neoliberalen Konsumwelt. Weil er noch glaubt an die Menschlichkeit und an die Sprache des Herzens.

Siehe, ein Mensch!

Hans Gröning ist Jakob Lenz. Der Bariton lebt seine Rolle. Er singt und haucht, keucht und jault, schreit und flüstert. Er hört Stimmen und hat Visionen: Passanten verwandeln sich in Gespenster, eine Prostituierte erscheint ihm als verlorene Geliebte. Als er eher zufällig in eine Demonstration gerät, für die Bienen und gegen Nazis, wird er von Polizisten niedergeknüppelt. Am Ende steht er allein auf der Bühne, blutüberströmt, halbnackt, aber aufrecht: Siehe, ein Mensch!

Es regnet Flugblätter

Szenenfoto mit Hans Gröning als Jakob Lenz | Bildquelle: Bettina Stöß Szenenfoto mit Bariton Hans Gröning als Jakob Lenz | Bildquelle: Bettina Stöß Eigentlich ist Wolfgang Rihms "Jakob Lenz" ein Kammerspiel: nur drei Figuren, elf Instrumente und ein Mini-Chor. Alles ist reduziert, ins Innere verlagert. Regisseur Tilman Knabe aber wendet das Stück ins Äußere, ins Politische. Er erzählt keine individuelle Krankheitsgeschichte, sondern die Geschichte einer kranken Gesellschaft. An sich keine schlechte Idee. Nur leider wird diese Wendung ins Äußere erkauft mit einer Überfülle an Äußerlichkeiten. Es wird geprügelt und geklaut, es fließt Blut und regnet Flugblätter auf die Zuschauer im Theater herab, es gibt Stroboskopeffekte und Videoprojektionen, alle fünf Minuten wechselt das Bühnenbild, und eine große Statisterie sorgt permanent für Action. Auf die Dauer ist das einfach zu viel. Sicher, es geht einem manches durch den Kopf in den anderthalb Stunden, aber leider wenig unter die Haut.

Zu kühl und sezierend

Was aber im Ohr hängen bleibt, ist neben dem fulminanten Hans Gröning in der Titelrolle der warme Bassbariton von Wonyong Kang, der als Pfarrer Oberlin eine menschliche Note in diese düstere Welt bringt. Überhaupt sind die Gesangsstimmen, von Hans Kittelmann als aalglattem Dichter Kaufmann bis zum Chor, exzellent besetzt. Guido Johannes Rumstadt leitet souverän durch die komplexe Partitur, animiert das kleine Kammerensemble der Staatsphilharmonie zu großer orchestraler Wucht, fasziniert durch schön ausgehorchte Echoeffekte. Und doch bleibt auch hier, in der Musik, manches zu kühl und zu sezierend. Denn gerade den leisen Zwischenspielen fehlt es an Intimität und Intensität. Und so vermisst man im Nürnberger "Jakob Lenz" szenisch wie musikalisch am Ende paradoxerweise genau das, was die Regie eigentlich so lautstark reklamiert: das Herz.

Sendung: "Allegro" am 24. Juni 2019 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Rihms Kammeroper in Nürnberg

"Jakob Lenz"
Kammeroper von Wolfgang Rihm
Staatstheater Nürnberg

Regie: Tilman Knabe

Staatsphilharmonie Nürnberg
Leitung: Guido Johannes Rumstadt

Informationen zu Terminen und Vorverkauf erhalten Sie auf der Homepage des Opernhauses.

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