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„Jakob Lenz“ in Nürnberg: Die dunkle Seite der Pracht

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Jakob Lenz (Hans Gröning) ist in dieser Inszenierung ein heruntergerockter Aussteiger-Philosoph.
Jakob Lenz (Hans Gröning) ist in dieser Inszenierung ein heruntergerockter Aussteiger-Philosoph. © Foto: Bettina Stöß

Er galt als der wildeste Sturm-und-Drang-Dichter, der mit sich am wenigsten zurechtkam. Nürnberg zeigt Jakob Lenz in der Veroperung von Wolfgang Rihm als Penner in einem US-Hinterhof. Das ist auch ein Problem.

Nürnberg - Früher mag er selbst in einem der hohen Häuser gewohnt haben, vielleicht in einem anderen, hübscheren Viertel. Mit Sofa-Garnitur auf Auslegeware, Kabelanschluss und Küchenzeile. Was ihm geblieben ist: ein Einkaufswagen mit vollgestopften Plastiktüten, aus einer fischt Jakob Lenz einmal eine Flasche, Wodka dürfte das sein. Und was ihn dahin gebracht hat, auf die dunkle Seite der Pracht? Wir wissen es nicht. Irgendwas mit Frauen vielleicht, zu oft barmt und stammelt dieser Mann schließlich von einer Friederike. Tief gefallen ist er also, sein aufbrausendes Wesen, seine leichte Erregbarkeit hat er sich allerdings bewahrt.

Mit Jakob Lenz zurechtkommen? Keiner schafft das, am wenigsten er selbst. Ende des 18. Jahrhunderts machten ihn seine Verse und Stücke zum literarischen Sturmdränger par excellence, wilder, unbarmherziger, realismusverliebter als Goethe, mit dem er sich verkrachte. Die Überreiztheit, das Leiden an sich und der Welt trieben ihn zu Suizidversuchen. Sein Vagabundendasein führte ihn unter anderem ins Elsässer Vogesental zu Pfarrer Oberlin; auch der scheiterte an der Domestizierung des Ungreifbaren. Georg Büchner machte aus der Begegnung seine berühmte Novelle; dem 25-jährigen Komponisten Wolfgang Rihm glückte 1978 ein 80-minütiger Kammeropern-Wurf und eines der erfolgreichsten Musiktheaterwerke des 20. Jahrhunderts, am Nürnberger Staatstheater ist das nun als Obdachlosen-Grusical mit Schauderanspruch zu erleben.

Die Regie hält den Titelhelden auf Abstand

Regisseur Tilman Knabe, einst einer der bösen Buben des sogenannten Regietheaters, sieht Lenz als heruntergerockten Aussteiger-Philosophen in einem US-Hinterhof – der von Bühnenbildnerin Annika Haller so monumental wie detailverliebt nachgepuzzelt wird. Einmal wird Lenz von Business-Wesen umtanzt, ein anderes Mal von einer Huren-Parade (Kostüme: Eva-Mareike Uhlig), der Mann hat eben Visionen, gute und schlechte. Eine Mixtur aus Schmuddel- und Parolentheater ist das, Konsumkritik inklusive, handwerklich imponierend durchgeführt. Alles will ab- und erschreckend sein, hält uns aber Lenz eigentümlich auf Abstand. Vielleicht auch, weil Tilman Knabe aus der Falle des  Sozialrealismus,  des Bettleropern-Klischees nicht mehr herausfindet und Lenz auf den geheimnislosen Penner reduziert.

Gut ist die Aufführung, wenn sie ins Surreale abbiegt, wenn der nackte, blutige Lenz zur Ecce-Homo-Version wird. Ein bisschen platt wird es dagegen, wenn Knabe seinem Antihelden ein homoerotisches Verhältnis zu Pfarrer Oberlin andichtet, als ob da eine Art Außenseiter-Checkliste abgearbeitet werden müsste. Hans Gröning ist naturgemäß Mittelpunkt des kurzen Abends, und er macht seine Sache großartig. Gerade weil er Lenz – trotz aller singsprechenden Entäußerung, trotz aller grau-rauen Baritonkraft – Größe und Würde bewahrt. Wonyong Kang ist als Pfarrer Oberlin die wohlklingende Ruhezone der Aufführung, Hans Kittelmann zeichnet  den Kaufmann hochpräzise,  vielschichtig  und mit Tenorflorett.

Dass Wolfgang Rihm in „Jakob Lenz“ noch mehr am Experiment mit Gerüst und Struktur statt an späterer Sinnlichkeit interessiert ist, hört man bei Guido Johannes Rumstadt und den elf Musikern der Nürnberger Staatsphilharmonie gut heraus. Zusammen mit den sechs Vokalsolisten, die sowohl als innere Lenz- und ihn bedrängende Außenstimmen aktiv sind, wird das zu einem gut nachvollziehbaren Trip durch Rihms Klangzerklüftungen. Und zum Beweis, dass „Jakob Lenz“ nicht das dünnste Spinnwebenfädchen angesetzt hat.

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