La Folle Journée oder Le Mariage de Figaro aus der Feder des französischen Schriftstellers und Universalgenies Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais entstand zu einer Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche. Wenige Jahre vor der Französischen Revolution, in einer Zeit, in der das Ancien Régime bereits wankte und die Stellung des Adels immer stärker hinterfragt wurde, ist die Komödie exemplarisch für die Prinzipien der Aufklärung und die zunehmende Emanzipierung des Bürgertums. Mozart und sein Librettist Lorenzo da Ponte erkannten die Brisanz und Aktualität des Stücks und brachten es kaum zwei Jahre nach Beaumarchais Schauspiel als Le nozze di Figaro in Wien zur Uraufführung und führen in der Oper die Kritik am feudalistischen System ihrer Zeit fort.

Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung von 2007 verlagert das Geschehen in das Spanien der 1930er Jahre, das unter Franco ebenso von gesellschaftlichen Umbrüchen, Revolution und aufkeimenden Faschismus geprägt ist. Das Bühnenbild ist ein heller Raum mit kolonialer Fototapete, die von exotischen Arkadienlandschaften träumen lässt, aber wohl eher auf den Kolonialismus des 20. Jahrhunderts hinweist. Doch statt vorrevolutionären Aufbäumens der Akteure betont das Geschehen auf der Bühne eher die Standesunterschiede und verdeutlicht einmal mehr, das Figaro vor allem ein Spiegel menschlicher Sehnsüchte, Emotionen und ausgelebter Triebe ist – ganz gleich in welchem Jahrhundert es spielt.

Statt ernsthafter Systemkritik verkommt das Stück zur komödiantischen Tür-auf-Tür-zu-Komödie. Unter dem ständigen Klamauk und Herumalbern muss man lang suchen, um die Tiefe des Werks mit der beispielsweise klassenbedingten Unterdrückung und dem Machtmissbrauch des Grafen zu entdecken. Die Personenregie wirkt auch nach 12 Jahren noch spritzig und detailreich, ist jedoch mit unerträglich viel Slapstick und allerlei Witzeleien aus der Theatertrickkiste gefüllt. Überhaupt wird in Bechtolfs Inszenierung viel gestolpert, unter fremde Röcke geschaut und in Ohnmacht gefallen.

Statt als herrischer Diktator tritt Almaviva höchstens als Haustyrann im seidenen Morgenmantel auf, der sich lediglich in seinen eigenen vier Wänden diktatorisch zu verwirklichen versucht. Mit seinen Taschenspielertricks als „il magico conte“ gibt er das Bild eines abgehalfterten Zauberers ab und driftet schnell ins Lächerliche. Bewundernswert war John Chest, der sich als Graf für keinen Witz zu schade war und die Rolle mit eiserner Überzeugung darstellte. Seine Stimme war von maskuliner Durchschlagskraft und sein herbes, raues Timbre war geradezu für die Rolle geschaffen.

Alexander Miminoshvili hatte als Figaro nicht nur die Sympathie des Publikums, sondern auch die meisten Lacher auf seiner Seite. Er scheint die Rolle seines Lebens gefunden zu haben und ging geradezu in seinem Spiel auf. Stimmlich präsentierte sich der russische Bassbariton mit kantiger, agiler Stimme. Seine differenziert gezeichneten Gesangslinien, bot er u.a. in „Aprite un po'quegli occhi” eindrucksvoll dar.

Golda Schultz verkörperte die Gräfin mit Grace Kelly-hafter Eleganz und Souveränität. Von raumeinnehmenden kraftvollen Fortes bis hin zu feinsten Pianissimi beherrschte sie alles. Sie gab eine Contessa, deren Emotionen sehr nachvollziehbar und menschlich eindringlich wirkten, ihr „Dove sono“ sucht seinesgleichen. Regula Mühlemann spielte eine vielschichtige Susanna, mit vibratoarmer Stimme und schwerelosen Höhen. Ebenso voller Leichtigkeit war ihre spielerische Darstellung.

Das Philharmonia Zürich Orchester unter Leitung von Ottavio Dantone beeindruckt trotz recht kleiner Besetzung mit einem vollen, satten und vor allem modernen Klang. Dieser Mozart ist unglaublich aufbrausend und dramatisch gestaltet. Dantone variiert auf interessante weise die Tempi und baute so ein äußerst spannendes Dirigat auf.

Musikalisch rundet diese Vorstellung die Aufführungsserie des Figaros niveauvoll ab. Offenbarende Sichtweisen auf das Werk bietet Bechtolfs Inszenierung nicht, liefert aber dennoch einen kurzweiligen und unterhaltsamen Zeitvertreib. Schlussendlich beweist er, dass Le nozze di Figaro eine jahrhunderteüberspannende Universalität besitzt. Die eindringliche Menschlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Figuren kommt in jedweder Bebilderung immer wieder zum Vorschein und vermag uns mit den Figuren mitfühlen zu lassen. Ob zur Zeit der französischen Revolution, vor der Machtergreifung Francos oder heute im Jahre 2019 – das eigentlich Revolutionäre ist nicht das Setting, sondern die unübertroffene Musik Mozarts.

***11