Seit Plácido Domingo ins Baritonfach gewechselt hat widmet er sich besonders den gefühlvollen Vätern in den Opern Giuseppe Verdis. Die beeindruckendste Rolle unter ihnen ist wohl der Doge von Genua, Simon Boccanegra, für dessen Darsteller sich Verdi Würde und Autorität wünschte. Domingo scheint dafür wie prädestiniert. In der Produktion des Mariinsky Theaters St. Petersburg, die in Baden-Baden für nur eine einzige Aufführung gastierte, gab er ein bewegendes Rollenportrait. Domingos Boccanegra war in der weitgehend düsteren Handlung die Lichtgestalt: Versöhner, Friedensstifter, liebender Vater und noch im Tod abgeklärt und gefasst.

Mehr als zwanzig Jahre umfasst die Handlung dieser Oper: Aufstieg und Fall des Dogen vom Moment seiner Ausrufung bis zu einer Verschwörung gegen ihn und seinem Tod durch feigen Giftmord. Umgekehrt verhält es sich auf der privaten Ebene. Die Handlung beginnt mit erbitterter Feindschaft, die der Adlige Jocopo Fiesco dem Korsaren Boccanegra schwört, weil Simon mit dessen Tocher Maria ein Kind hat. Die Mutter stirbt, das Kind ist verschollen. Viele Jahre schon Doge, findet Simon seine Tochter wieder, der glücklichste Moment dieser Oper. Und nach gescheiterter Rebellion kommt es im Moment seines Todes auch politisch und privat zur Versöhnung mit Fiesco.

Die Inszenierung von Andrea de Rosa schlägt allerdings aus dieser spannungsvollen Handlung kaum Funken. Inspirationslos beschränkt sie sich auf das einigermaßen logische Arrangement der Handlungsabfolge. Auftritte, Abgänge, Körpersprache – alles ist erwartbar, bleibt klischeehaft. Gesungen wird vornehmlich an der Rampe, auch der Chor bleibt statisch. Die emotional hoch bewegende Wiedersehensszene zwischen Boccanegra und seiner Tochter lebt vornehmlich durch die Musik und die vokale Gestaltung. Neben dem väterlich warmen Bariton Domingos war es Tatiana Serjan, die mit ihrem jugendlich frischen Sopran dieser Szene emotionale Tiefe gab.

Domingo hat keine große Baritonstimme, gleicht dies aber durch Farbenreichtum und differenzierte Gestaltung aus. Stimmlich überzeugend war er ebenso als stürmischer Korsar im Prolog wie als weiser Regent, der die streitenden Parteien der Patrizier und Plebejer in der großen Ratsszene des ersten Akts zum Frieden mahnt. Doch die Brisanz dieser Szene, die Verdi besonders am Herzen lag, bleibt durch das Fehlen jeglichen Konzepts einer Interpretation weitgehend verborgen. Verschenkt wird die Wirkung der friedensstiftenden Worte des Schreibens von Petrarca, mit denen der Doge die Parteien vergeblich in ihrem politischen Eifer zu besänftigen sucht.

Auch das folgende großartige Schlusstableau erhält seine dramatische Kraft vor allem durch die Musik. Valery Gergievs Dirigat bestach vor allem in den emotional aufgewühlten Szenen. Hier ist es die unheimliche Atmosphäre der Selbstverfluchung Paolos, den Boccanegra als Drahtzieher der Verschwörung erkannt hat und den er hier öffentlich zur Rechenschaft zwingt. Als Paolo, dem ehemals Verbündeten und nach heftiger Enttäuschung erbitterten Feind Boccanegras, gab Roman Brudenko mit rabenschwarzem Bass durchdringend Profil. Die düstere Grundfarbe dieser Oper ließ Gergiev hier vom Orchester besonders intensiv malen, wenngleich sich die im tiefen Untergrund unheimlich drohende Bassklarinette etwas zu laut bemerkbar machte, was der Szene Einiges von ihrer magischen Ausstrahlung nahm.

Auch die Morgenstimmung zu Beginn des ersten Akts, das in sanften Trillerketten der Geigen gemalte Flirren der Luft, die zarten vereinzelten Vogellaute, die sich sacht kräuselnden Wellen – all dies, was Verdi schon fast impressionistisch an musikalischer Stimmungsmalerei in wunderbar lichte Farben taucht, ließ Gergiev leider zu laut musizieren. Nachhaltige Wirkung dagegen entfaltete die in dunkle Orchesterfarben getauchte Stimmung des Prologs und hier besonders das wehmütige Gebet Fiescos, der den plötzlichen Tod seiner Tochter Maria beklagt. In dieser Rolle war mit seinem profunden Bass Ferruccio Furlanetto unübertrefflich. Eindrucksvoll hob sich auch in der Auseinandersetzung Fiescos mit Boccanegra im dritten Akt seine tief grundierte Stimme vom hellen Timbre Domingos ab. Durch die große Gestaltungskraft dieser beiden ungemein erfahrenen Sänger wurde diese Szene zu einem der vokalen Höhepunkte des Abends. Nur einen Tenor gibt es in dieser Oper, Gabriele Adorno, zugleich Widersacher und Bräutigam der Tochter Simones. Diese Rolle sang mit dem nötigen schwärmerischen Impetus höhensicher und nuanciert der Georgier Otar Jorjikia.

Einigermaßen wettmachen kann die fehlende psychologische Durchdringung von Figuren und Szene in dieser Inszenierung immerhin das auch vom Regisseur entworfene eindrucksvolle Bühnenbild. Die Bühne selbst benötigt nur wenige Möbel im Stil der Renaissance, der originalen Epoche der Handlung. Historisiert sind auch die Kostüme von Alessandro Lai, besonders die üppige Staatsrobe des Dogen. Moderne Mittel der Videotechnik haben die Ausstatter genutzt, um mittels lebendiger Videoprojektion eine romantische Landschaft der ligurischen Küste über die gesamte Fläche der Hinterbühne zu projizieren. Das geschickte Lichtdesign von Pasquale Mari taucht die Szenerie jeweils in das passende stimmungsvolle Licht.

So stirbt der Doge am Schluss würdevoll einen sanften, langsamen Operntod im milden Licht des Sonnenuntergangs. Und während Fiesco Gabriele Adorno als neuen Dogen ausruft, erscheint Boccanegras längst verstorbene geliebte Maria wie eine Vision und schließt den toten Simon wie eine Pietá (ein wenig zu schön) in ihre Arme.

****1