Beklemmend zeitlos ist das Thema von Giuseppe Verdis 1887 uraufgeführtem Otello. Auch heute noch werden Jahr für Jahr unzählige Frauen von ihren Partnern ermordet, und so hat Amélie Niermeyer ihre Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper im Hier und Heute angesiedelt und nicht den titelgebenden Otello, sondern die von ihm getötete Desdemona in den Mittelpunkt gestellt.

Die Regisseurin zeichnet diese dabei zu keiner Zeit als unterwürfiges Opfer, sondern als selbstbewusste Frau, die ihrem Mann bestimmt entgegen tritt, aber schließlich aus dem Teufelskreis dieser Beziehung nicht ausbrechen kann. Otello ist in dieser Lesart kein strahlender Held, sondern ein traumatisierter Veteran, der an der Rückkehr in den Alltag zerbricht. Die von Shakespeare erdachte Allegorie des Bösen, Jago, wird auf der Bühne der bayerischen Staatsoper an diesem Abend ebenso mit menschlichen Gefühlen – wenn auch der unschönen Sorte – ausgestattet; ihm scheint die Beziehung Otellos zu Desdemona aus ganz egoistischen Gründen gegen den Strich zu gehen, hat er doch wohl selbst ein Auge auf diesen geworfen. Der intensiv ausgearbeiteten Personenregie steht ein kahles, sich nicht immer ganz in Logik erschließendes, Bühnenbild in Form eines sich nach jedem Akt drehenden Schlafzimmers gegenüber, das über weite Teile des Abends zwar nicht stört, aber auch nicht viel zur Interpretation der Geschichte beiträgt.

Ganz auf Linie mit der psychologisierenden Inszenierung präsentierte sich Kirill Petrenkos Dirigat bei den Münchner Opernfestspielen. Energiestrotzende Wucht ist seine Sache nicht, selbst in den monumentalen Chorpassagen ist elegante Zurückhaltung Programm und so wurde etwa aus dem anfänglichen Unwetter eher ein wohltuendes Gewitter an einem Sommernachmittag. Bestechend schön gerieten daher auch die sanften Momente, etwa die Einleitung zum Liebesduett im ersten Akt, die dank großer Cello-Gefühle golden schimmerte und die Zeit zum Stehen brachte. Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters achtete er auf jedes noch so kleine Detail der Partitur und schuf mit den Musikern im Graben ein transparentes Klangbett für die Sänger auf der Bühne, die er regelrecht auf Händen trug und somit nie zum Forcieren verleitete.

In der Titelpartie stand, wie bereits bei der Premierenserie im Winter, Jonas Kaufmann auf der Bühne. Die Interpretation der Regisseurin setzte er einwandfrei um und spielte den neben sich stehenden Kriegsrückkehrer überzeugend. Durch das differenzierte Dirigat von Petrenko war sein immer dunkler werdender Tenor weniger im heldischen Forte, dafür mehr in den Piani gefordert, was meist ausgezeichnet funktionierte, das „Dio mi potevi“ dann aber doch larmoyant werden ließ. Kaufmanns Timbre ist und bleibt Geschmackssache, seine Stärken kann er in anderen Rollen besser ausspielen, aber mittlerweile ist er merklich in der Rolle angekommen. Seine Bühnenpartnerin Anja Harteros konnte zwar schon im ersten Akt die charakteristisch schwebenden Piani ihres Soprans und ihre Phrasierungskunst unter Beweis stellen, so richtig in ihrem Element war sie dann in Desdemonas großer Szene im vierten Akt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Niemand betet auf der Bühne so berückend und innig wie Anja Harteros. Beim Lied von der Weide und dem Ave Maria konnte ihre Stimme engelsgleich timbriert in höchste Verdi-Sphären entströmen und beinahe dachte man, dass sie damit auch Otello noch erweichen würde. Zwischen Kaufmann und Harteros stimmt die Chemie bekanntlich, nicht nur die darstellerische, sondern auch die vokale. So verbanden sich die Stimmen im Duett ideal und boten einander in den Konfrontationen des dritten und vierten Akts eindrucksvoll Paroli. Dabei war es Anja Harteros, die mit ihrer Interpretation der Desdemona dem Abend noch das zusätzliche Quäntchen Star- und Stimmglanz verlieh.

Beinahe zu schön für die Rolle des Bösewichts Jago ist die Stimme von Gerald Finley; sein Bariton floss schmeichelnd dahin und stachelte samtig wie Merlot timbriert die Eifersucht Otellos an. Diese Passagen der hinterhältigen Intrige waren es auch, die ihm besonders gut in der Kehle lagen, denn das Credo hätte – obgleich es ganz hervorragend klang – ein Mehr an Dämonie ganz gut vertragen. Aus der Riege der durchwegs ausgezeichnet besetzten kleineren Rollen stach Evan LeRoy Johnsons Cassio mit seinem strahlend timbrierten Tenor besonders hervor; man konnte definitiv nachvollziehen, warum Otello diesen jungen Mann als ernsthafte Konkurrenz erkannte. Auf höchstem Niveau agierte auch der Chor der Bayerischen Staatsoper, der mit Präzision und Klangschönheit bestach und sich so den Solisten ideal zur Seite gesellte.

Musik und Theater verschmolzen an diesem Abend zu einem Ganzen, die Sänger erfüllten ihre Rollen mit Leben und ließen das Geschehen auf der Bühne dadurch gleichermaßen faszinierend und erschreckend real wirken. Ja, die Geschichte des Mohren von Venedig kann auf ein heutiges Publikum veraltet und irrelevant wirken, wird Otello aber so packend erzählt, wie nun an der Bayerischen Staatsoper, ist Verdis Oper auch 2019 noch brandaktuell.

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