Bayerische Staatsoper: Wenn Salome tanzt, gesellt sich der Tod als stumme Rolle hinzu

Mit Georg Friedrich Händels «Agrippina» und «Salome» von Richard Strauss trumpfen die Münchner Opernfestspiele. Beide Neuproduktionen markieren Höhepunkte der Saison an der Bayerischen Staatsoper.

Marco Frei, München
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In Barrie Koskys Inszenierung von Händels «Agrippina» wirkt der römische Kaiser Nero (Franco Fagioli, im Vordergrund) wie ein etwas schnöseliger Punk. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

In Barrie Koskys Inszenierung von Händels «Agrippina» wirkt der römische Kaiser Nero (Franco Fagioli, im Vordergrund) wie ein etwas schnöseliger Punk. (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Dieses Hausdebüt war überfällig. In den vergangenen Jahren hat Franco Fagioli den hohen Männergesang im Opernfach geradezu revolutioniert. Selbst Hosenrollen hat der Countertenor aus Argentinien längst erobert. An der Bayerischen Staatsoper in München wurden diese gewichtigen Entwicklungen verschlafen. Selbst das benachbarte Gärtnerplatztheater war sehr viel schneller: Hier feierte Fagioli bereits im Herbst 2013 sein Münchner Bühnendebüt. Jetzt endlich – mit grober Verspätung – war Franco Fagioli auch an der Bayerischen Staatsoper zu hören.

Im Rahmen der Münchner Opernfestspiele hatte die frühe Oper «Agrippina» von Georg Friedrich Händel aus den Jahr 1709 Premiere, mit Fagioli als Nerone. Noch dazu wurden zwei weitere Rollen mit Counter-Tenören besetzt, nämlich Iestyn Davies als Ottone und Eric Jurenas als Höfling Narciso. Für die Bayerische Staatsoper kommt das einem Paradigmenwechsel gleich. Denn ab Beginn der Intendanz von Nikolaus Bachler wurde der Counter-Gesang generell sträflich vernachlässigt.

Diversität als Profil

Mit der Auswahl der drei Counter-Tenöre wurde stimmlich jedoch eine breite Diversität präsentiert, die die ungeheuren jüngsten Entwicklungen in diesem Fach widerspiegelte – ein geradezu fesselndes Hörerlebnis. Das offenbarte zumal der Vergleich zwischen Fagioli und Davies. Selbst die wahnwitzigsten Koloraturen nimmt Fagioli gestochen klar – mit grösster Präzision und dramatischen Durchdringungen. Er lässt die Höhe wie ein Sopran erklingen, um sie gleichzeitig dunkel einzutrüben.

Dagegen geriert sich der Gesang von Davies weicher, lyrischer, auch fragiler. Beides passt vortrefflich zu den jeweiligen Rollen, wie sie Barrie Kosky in seiner Inszenierung anlegt. Mit seinem zarten Lyrismus wird der Ottone von Davies ein integrer Gegenpol – passend zum Stoff. In stürmischer See hat er den römischen Kaiser Claudio vor dem Ertrinken gerettet. Als Dank sollte Ottone den Thron besteigen, was er aber ablehnt. Sein Herz schlägt nur für die schöne Poppea (hinreissend: Elsa Benoit). Für sie schwärmt allerdings auch der Kaiser, und das alles nutzt dessen Ehefrau Agrippina für eine Intrige.

Sie möchte Nerone, ihren Sohn aus erster Ehe, auf dem Thron wissen. In die Mühlen dieses Machtspiels gerät der gutgläubige, ehrliche Ottone. In Händels Oper ist er der einzige Charakter, der nicht mit Ironie gezeichnet ist. Hier knüpft Koskys kluge Personenführung an. Allein in der Ausstattung von Klaus Bruns wirkt Nerone schon wie ein schräger Vogel. Auf seiner Glatze prangt ein Tattoo, und in seinen schwarzen Klamotten wirkt er wie ein Punk. Köstlich das Spiel von Fagioli: Seinen Nerone lässt er unaufhörlich zappeln, hyperaktiv und neurotisch.

Zu seiner Mutter Agrippina – sehr eindrücklich Alice Coote als gerissene Strippenzieherin – hat er eine inzestuöse Beziehung. Mehr mit Furcht begegnet er seinem Stiefvater Claudio, dargestellt von Gianluca Buratto, zumal auch er mit Poppea flirtet. Am Ende bekommen alle, was sie wollen. Nerone trägt die Krone, und Ottone vermählt sich mit Poppea. Auf den finalen Auftritt der Ehegöttin Giunone verzichtet Kosky. Stattdessen sitzt Agrippina in dem grossen Gerüst, das Rebecca Ringst als recht eintöniges Einheitsbild entworfen hat, stumm und allein, begleitet von wortloser Musik. Hier gelingt Kosky ein ähnlich starkes Bild wie zuvor bei der szenischen Ausgestaltung des Lamentos von Ottone im zweiten Akt, zumal das Bayerische Staatsorchester unter Ivor Bolton eine luzide Jenseitigkeit atmen lässt.

Der Tod tritt auf

Dagegen wagte Krzysztof Warlikowski mit seiner neuen «Salome» von Richard Strauss zu Beginn der Münchner Opernfestspiele mehr Deutung. Seine «Salome» spielt sich in einer Bibliothek ab, in der sich eine jüdische Gemeinschaft zusammenfindet (Bühne und Ausstattung: Małgorzata Szczęśniak). Bevor die eigentliche Oper losgeht, lauschen die Charaktere dem ersten der «Kindertotenlieder» von Gustav Mahler.

Im weiteren Verlauf erschliesst sich das Warum – gerade auch in Gestalt eines jungen Mädchens, das wiederholt auftaucht. Es repräsentiert nicht so sehr, wie so oft, die Salome als Kind, sondern die von den Nazis verfolgte und ermordete Anne Frank. Damit wird klar, dass der Stoff zeithistorisch mit dem Holocaust verbunden wird – umso sinnstiftender das «Kindertotenlied» von Mahler.

Es verweist einerseits auf den frühen Tod der Anne Frank. Andererseits war auch Mahler als konvertierter Jude zeitlebens ein Opfer antisemitischer Kampagnen. Von der «Salome»-Partitur von Strauss war Mahler sehr angetan. Mit dem Prolog vor dem eigentlichen Beginn der Oper entwirft Warlikowski ein Theater im Theater, das in den 1930er bzw. 1940er Jahren spielt. Wenn Salome schliesslich tanzt, gesellt sich bei Warlikowski die stumme Rolle des Todes hinzu – eine starke Szene.

Dazu zeigt das Video von Kamil Polak in Comic-Animation die Fresken der Synagoge im ukrainischen Chodorow, die 1941 unter der Nazi-Besetzung zerstört wurde. Am Ende begeht das Theater im Theater kollektiven Selbstmord, und Salome wird wohl der anrückenden Gestapo geopfert. Dafür gab es einige Buhrufe, umso grösser der Jubel für den Dirigenten Kirill Petrenko und die Solisten – allen voran für Marlis Petersen in der Titelpartie. Ihr Rollendebüt wurde eine veritable Sensation – allein gesanglich.

Dramatisch und lyrisch

Anstatt diese monströse Partie im Überdruck herauszupressen, gelang Petersen eine schier unerschöpfliche Differenzierung. Ihre Salome war alles zusammen: dramatisch und lyrisch, sinnlich und abgründig, erotisch und abstossend, stark und gebrochen. Eine hochspannende Charakterstudie ist da gelungen – auch dank dem Bayerischen Staatsorchester mit Petrenko am Pult. Sie haben dem besonderen Salome-Profil von Petersen den Nährboden bereitet. Hier ist eine Neudefinition dieser Partie geglückt.

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