Salzburger Festspiele: Wenn fliegende Schweine die Bühne fluten

Das Erfolgsgespann Teodor Currentzis und Peter Sellars zeigt zur Eröffnung des Salzburger Premierenreigens eine eigenwillige Deutung von Mozarts Oper «Idomeneo» – als Plädoyer für selbstverantwortliches Handeln zur Rettung der Welt.

Christian Wildhagen, Salzburg
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Gefährdete Liebe: Idamante (Paula Murrihy, rechts) und Elettra (Nicole Chevalier) werden sich schon bald innig hassen. (Bild: Salzburger Festspiele)

Gefährdete Liebe: Idamante (Paula Murrihy, rechts) und Elettra (Nicole Chevalier) werden sich schon bald innig hassen. (Bild: Salzburger Festspiele)

Müssen wir historische Opern eigentlich immer aus der Perspektive unserer eigenen Zeit betrachten? Was macht diese unsere Perspektive so bedeutend, dass wir sie, oft ohne Rücksicht auf Verluste, in die grossen Werke der Vergangenheit hineinprojizieren? Vertreter des ältesten Dogmas des modernen Regietheaters würden antworten: Bedeutend ist diese Perspektive allein schon dadurch, dass es eben unsere eigene und mithin die für uns einzig mögliche ist. Denn wir können weder auf Ereignisse noch auf kulturelle Schöpfungen früherer Epochen blicken, ohne dabei das Bewusstsein und das Wissen unserer eigenen Zeit einzubringen. Das Ansinnen, namentlich Werke des Musik- und Sprechtheaters streng werk- oder gar textgetreu vor dem Horizont ihrer Entstehungszeit aufzuführen, bringe dagegen nichts anderes hervor als toten, bestenfalls «musealen» Historismus.

Über Pro und Contra dieses Richtungsstreits, der in der Opernwelt seit mehr als einem halben Jahrhundert tobt, lässt sich gerade wieder mit besonderer Verve diskutieren: Soeben hat Tobias Kratzer in Bayreuth eine brillante neue Lesart von Wagners «Tannhäuser» vorgelegt, die das Drama des Minnesängers virtuos mit sehr heutigen Mitteln erzählt; jetzt folgt ihm, nur zwei Tage später, Peter Sellars, der zur Eröffnung des Opernreigens bei den Salzburger Festspielen Mozarts «Idomeneo» einem radikalen Gegenwartstest unterzieht. Und bei Sellars meint dies tatsächlich: unmittelbare, schmerzhafte Gegenwart – Klimadebatte und «Fridays for Future» inklusive.

Mit Gebrauchsanweisung

Bei weniger originellen Regisseuren steht in solchen Fällen schnell der Vorwurf der «Zeitgeistigkeit» im Raum. Auch Sellars verfolgt er spätestens seit seiner – heute indes prophetisch anmutenden – Verlegung von Mozarts «Figaro» in den Trump Tower. Das war im Jahr 1988. Sellars selbst hat dem Vorwurf die Spitze genommen, indem er den Geist der Zeit unterdessen weniger plakativ als vielmehr in künstlerisch bewusst überformten Bildern und bezwingenden Konzepten zu erfassen sucht. Schon im Festspielsommer 2017, im ersten Jahr der Intendanz von Markus Hinterhäuser, hatte er das Salzburger Publikum mit seiner Sicht auf Mozarts späte Seria «La clemenza di Tito» aufgerüttelt; darin griff er das moralische Dilemma des Attentäters für eine «gute» Sache auf und spitzte es bis über alle Komfortzonengrenzen hinaus zu.

Der neue «Idomeneo», wiederum im Verbund mit Teodor Currentzis am Pult, soll an diese polarisierende Produktion anknüpfen; er tut dies auch, bis hinein in einzelne Kostüm- und Kulissenzitate – und bleibt doch deutlich hinter dem «Titus» zurück. Vor allem deshalb, weil Sellars in eine der ältesten Fallen des Regietheaters tappt: Er schafft eine Produktion, deren weitergehende geistige und politische Anliegen sich sämtlich erst durch den Blick in eine Gebrauchsanweisung, sprich: das Programmheft, erschliessen. Zu unverkopfter, genuin theatraler Wirkung auf der Bühne der Felsenreitschule kommt dagegen lediglich ein handwerklich solide gearbeitetes, aber harmloses Vier-Personen-Stück.

Dies ist bedauerlich, denn Sellars’ Konzept erscheint, wie schon beim «Titus», durchaus diskussionswürdig. Etwa die zunächst verblüffende Idee, den Ort der Opernhandlung, das antike Kreta, gedanklich kurzzuschliessen mit der fernen Inselrepublik Kiribati, die als einer der ersten Landstriche durch den Anstieg des Meeresspiegels infolge der Erderwärmung in ihrer Existenz bedroht ist. Sellars lässt den Inselherrscher Idomeneo (stimmlich etwas einförmig: Russell Thomas) einen noch immer zeitgemässen Prozess von innerer Aufklärung und Emanzipation durchleben.

An dessen Ende steht die – auch manchem Herrscher der Gegenwart sehr zu wünschende – Erkenntnis, dass das Aufbegehren der Natur wider den Menschen weder durch einen zürnenden pausbäckigen Meergott namens Neptun noch durch irgendwelche anderen numinosen Kräfte hervorgerufen wird, sondern einzig und allein durch den Menschen selbst.

Idomeneo (Russell Thomas, links) kann sich nicht vom Einfluss des Gran Sacerdote (Issachah Savage) befreien. (Bild: Salzburger Festspiele)

Idomeneo (Russell Thomas, links) kann sich nicht vom Einfluss des Gran Sacerdote (Issachah Savage) befreien. (Bild: Salzburger Festspiele)

Das hat Biss, und es korreliert sogar einigermassen mit Giambattista Varescos zweieinhalb Jahrhunderte altem Textbuch, zumal am Ende, wenn der gescheiterte Idomeneo zugunsten von Idamante, seinem Sohn, und dessen Braut Ilia auf die Macht verzichtet, also die Rettung der (Insel-)Welt in die Hände der nachfolgenden Generation legt. Auch wenn einige Zuschauer angesichts der offenkundigen Parallelen dankbar gewesen sein dürften, von Greta-Thunberg-Wiedergängerinnen oder grellen Aktivisten-Demos quer durchs Publikum verschont geblieben zu sein – ein wenig greifbarer hätte sich der berechtigte zeitkritische Anspruch der Produktion schon auf der Bühne manifestieren dürfen.

So bleibt es bei der symbolischen Installation einer an den Rändern herumliegenden oder im Bühnenhimmel schwebenden Schar von putzigen Wimpertierchen, weiteren Einzellern und Muscheln, allesamt wohl aus der besagten Pazifikregion. Einige von ihnen sehen in der riesenhaften Vergrösserung (Bühne: George Tsypin) aus wie fliegende Schweine. Doch so lustig ist das Ganze gar nicht gemeint, denn immerhin fluten die Tierchen mitsamt dem zürnenden Ozean am Ende des ersten Aufzugs in einer spektakulären Nebel- und Laserlicht-Projektion die gesamte Felsenreitschule bis unter das Dach. Oper als lebensbedrohliches Endzeit-Spektakel – wer hätte das gedacht! Passenderweise geht zur selben Zeit eine reale Sintflut in Gestalt eines Hitzegewitters über Salzburg nieder.

Balsamisch

Ungeachtet solcher Interventionen von höherer Warte waltet über dem Rest der Aufführung ein eigentümlich milder Ästhetizismus, womöglich inspiriert durch den auch in der Musik vorherrschenden Ton. Denn Currentzis tänzelt, zappelt und fuchtelt zwar in gewohnt exaltierter Manier vor dem vorzüglichen Freiburger Barockorchester herum, als müsste er dem eigentlich bestens präparierten Ensemble jedes Detail von Mozarts genialem Jugendwerk direkt in die Finger und Herzen dirigieren – das klangliche Resultat aber bleibt selbst in der äussersten dynamischen Zuspitzung, namentlich in den durch isoliert postiertes Schlagwerk verstärkten Sturmmusiken, dennoch spannungsvoll-gelassen, kontrolliert und ungeheuer farbenreich, aber nie vordergründig effektbetont.

Beherzte Striche bei den Secco-Rezitativen und mehr noch die ungemein geistreich improvisierten Überleitungen von Marija Shabashova am Hammerklavier (die bei der eingeschobenen, allerdings etwas stilfremden Konzertarie «Non temer, amato bene» KV 505 kurz vor Schluss auch solistisch in Erscheinung tritt) verdichten den musikalischen Sog. Er trägt besonders die drei überragenden Frauenstimmen dieses Premierenabends zu immer neuen Höchstleistungen. Ying Fang berührt als Ilia – von Sellars als eine traumatisierte, aber rasch integrierte Flüchtlingswaise gezeichnet – schon mit ihrer Eröffnungsarie «Padre, germani, addio» und setzt für alles Folgende den balsamischen, bis in zarteste Nuancierungen ausgestalteten Ton: Mozart-Gesang auf Spitzenniveau!

Ideal, ja beinahe schon zu harmonisch angesichts der gewaltigen emotionalen Stürme, die diese Liebe zu überstehen hat, fügt sich zu Fangs hellem, aber nicht körperlosen Sopran der etwas dunklere Mezzo von Paula Murrihy als Idamante. Umso mehr sorgt Nicole Chevalier als Elettra, die wie Ilia um die Liebe Idamantes kämpft, mit ihrem zu ungeahnt dramatischen Ausbrüchen fähigen Sopran für den nötigen Kontrast, besonders in ihrem fulminanten Furienfinale «D’Oreste, d’Aiace». Das Publikum feiert die drei Sängerinnen, aber auch die deutlich schwächeren Männerstimmen, ebenso den einzigartig homogenen Chor der Oper Perm (Einstudierung: Vitaly Polonsky) mit Ovationen; für Peter Sellars hingegen setzt es ein paar böse Buhrufe.

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Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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