Salzburger Festspiele: Für dieses Stück braucht man einfach eine neue Callas

Simon Stone zeigt eine multimedial angereicherte Inszenierung der Medea-Oper von Luigi Cherubini. Allerdings kann nicht einmal Thomas Hengelbrock am Pult der Wiener Philharmoniker verhindern, dass die Musik daneben ins Hintertreffen gerät. Und an einem entscheidenden Punkt stösst Stones Konzept selbst an Grenzen.

Christian Wildhagen, Salzburg
Drucken
Trivialer Showdown an der Tankstelle: Schlussszene aus der Salzburger Neuproduktion von Luigi Cherubinis «Médée» im Grossen Festspielhaus. (Bild: Thomas Aurin / Salzburger Festspiele)

Trivialer Showdown an der Tankstelle: Schlussszene aus der Salzburger Neuproduktion von Luigi Cherubinis «Médée» im Grossen Festspielhaus. (Bild: Thomas Aurin / Salzburger Festspiele)

Ist die Zeit für einen neuen Realismus gekommen? Wer die jüngsten Musiktheaterproduktionen einiger führender Regisseure unserer aufgeregten Epoche mit ein wenig Distanz betrachtet, könnte leicht auf diesen Gedanken verfallen: Fast überall hat die Bühne als jahrhundertealte Illusions- und Verzauberungsmaschinerie ausgedient; stattdessen herrscht ein knallharter, oft am Stil von Live-Reportagen und Fernsehkrimis geschulter Aktualisierungszwang. Beobachten konnte man dies etwa an den Inszenierungen des geknechteten Kirill Serebrennikow, beispielsweise bei seinem Hamburger «Nabucco», angesiedelt im naturgetreu nachgebauten Uno-Sicherheitsrat, oder auch bei seiner Zürcher «Così fan tutte», verlegt ins Schickimicki- und Fitnessklub-Milieu.

Erst kürzlich machte Tobias Kratzer die Spannung zwischen der erlebten Wirklichkeit und einer teils illusionistisch nachgestalteten, teils erkennbar fingierten Realität auf der Bühne zum Thema seiner geistreichen «Tannhäuser»-Inszenierung in Bayreuth. Und Simon Stone, der inzwischen allerorten, auch im Schauspiel, gefragte Shootingstar unter den jungen Regisseuren, setzt dem Ganzen nun in Salzburg die Krone auf, indem er die zweite szenische Opernproduktion der diesjährigen Festspiele, Luigi Cherubinis «Médée», als eine Art Reality-TV vor die Augen der Zuschauer im Grossen Festspielhaus wuchtet. Dass dies bei einem so archaischen Stoff wie dem antiken Mythos der Kindermörderin Medea gewaltige Risiken, ja ästhetische Abgründe birgt, nimmt Stone dabei mutig in Kauf.

Gegenwart und Texttreue

In Stones künstlerischem Credo – eine in ihrer formalen Perfektion und Virtuosität womöglich sehr angelsächsische Mischung – trifft kühne Vergegenwärtigung in dezidiert heutigen Bildern auf überraschende Texttreue. Bei Stone wird einem Werk nicht einfach ein Konzept übergestülpt, koste es, was es wolle (ein Grundproblem von Peter Sellars’ neuem Salzburger «Idomeneo»); bei Stone wird erst einmal analytisch genau gelesen, worum es im Libretto geht. Das funktionierte bei seiner Deutung von Korngolds «Toter Stadt» am Theater Basel so stimmig, dass er die Produktion demnächst für die Bayerische Staatsoper adaptiert. Und auch in Salzburg geht die Sache zunächst gut, immerhin zweieinhalb Akte lang.

Wie Kratzer, der den «Tannhäuser» in Franken und schliesslich konkret auf Bayreuths Grünem Hügel verortet, setzt Stone dem Publikum das Geschehen direkt vor die Nase: Wir erleben das Schicksal einer Salzburger Upper-Class-Family mit Designer-Wohnung nahe der Altstadt und einem Ferienhaus vor Alpenkulisse. Er, Jason (Pavel Černoch), hat es irgendwie zu viel Geld gebracht; sie, Medea (Elena Stikhina), die einst aus dem fernen Georgien Zugereiste, kümmert sich, längst voll ins Helikoptermutterdasein integriert, aufopferungsvoll um die beiden gemeinsamen Kinder. Jason aber kann die Finger nicht von anderen Frauen lassen – schon bei den alten Griechen konnte er dies nicht –, und so zerbricht das Glück an einem Seitensprung mit der glutäugigen Dirke (Rosa Feola).

Dirke (Rosa Feola) schlägt Medea bei Jason aus dem Feld, doch treu ist er auch ihr nicht. (Bild: Manfred Siebinger / Salzburger Festspiele)

Dirke (Rosa Feola) schlägt Medea bei Jason aus dem Feld, doch treu ist er auch ihr nicht. (Bild: Manfred Siebinger / Salzburger Festspiele)

Stone führt uns die Vorgeschichte wie auch die weiteren Stationen dieses Ehescheidungsdramas in dramatischen Schwarz-Weiss-Filmen vor, die das erste Mal schon während der Ouvertüre über den Vorhang flimmern; Stone ist dabei sein eigener Kameramann. Später werden auch einzelne Spielszenen mit Videoprojektionen hinterlegt (eine weitere Parallele zum Bayreuther «Tannhäuser»). Ausserdem unterbricht der Regisseur die Handlung an einigen Stellen, um mit eingeblendeten Mailbox-Nachrichten die wachsende Verzweiflung und schliesslich den auflodernden Hass Medeas zu verdeutlichen: Hat man diese doch – ein gezielter Seitenhieb auf die österreichische Flüchtlingspolitik unter der geschassten Kurz-Regierung – nach der Scheidung offenbar umgehend in ihr Herkunftsland ausgeschafft.

Das entwickelt eine genuin theatralische Spannung, nicht bloss durch die nahezu bruchlose Verbindung der unterschiedlichen Medien, sondern mehr noch durch das Spiel in mehreren realen (und äusserst detailverliebt ausgestalteten) Bühnenräumen gleichzeitig. Bob Cousins schafft dafür ein knappes Dutzend verschiedener Bühnenbilder, die teilweise parallel neben- und übereinander gezeigt und bespielt werden. Besonders eindringlich in der leidenschaftlichen Duett-Szene («Perfides ennemis!») zwischen Jason und Medea am Ende des ersten Aktes; darin sitzt die Ausgeschaffte im linken Teil der breiten Festspielhausbühne gleichsam Tausende Kilometer weit entfernt in einem schäbigen Internetcafé in Tbilissi, während Jason rechts, unmittelbar daneben, in einem schicken Hotelzimmer einen zweiten Junggesellenabschied vor der Hochzeit mit Dirke feiert, Damenbesuch inklusive.

Ausgeschafft: Medea (Elena Stikhina) versucht aus der Ferne ihre Beziehung zu Jason und ihr Familienleben zu kitten. (Bild: Thomas Aurin / Salzburger Festspiele)

Ausgeschafft: Medea (Elena Stikhina) versucht aus der Ferne ihre Beziehung zu Jason und ihr Familienleben zu kitten. (Bild: Thomas Aurin / Salzburger Festspiele)

Noch näher rücken uns die Figuren und vor allem das Schicksal Medeas am Beginn des zweiten Aktes, der hier im Ankunftsbereich des Wiener Flughafens spielt. Um ihre Kinder zu sehen, ist die Verstossene mutig zurückgekehrt: Nach langem Ringen mit dem zynischen Machtpolitiker Kreon (Vitalij Kowaljow) gewährt man ihr grossherzig Asyl – für einen Tag. Dann muss alles geregelt sein, und für Medea gibt es somit nur noch eine, die letzte und ultimative Option. Mit dem archaischen Rachefeldzug, der nun beginnt und der in der Ermordung der Kinder durch ihre Mutter gipfeln wird, stösst indes das Realismuskonzept der Inszenierung an seine Grenzen.

Musik zum Film?

Keine Sängerin, keine Schauspielerin könnte einen solchen Amoklauf «realistisch» verkörpern; auch nicht Elena Stikhina, die vokal wie darstellerisch Grosses leistet an diesem Abend. Hier hätte Stone die Reality-Perspektive vielmehr ins Mythische weiten und vertiefen müssen, um dem beispiellosen Atavismus von Medeas Selbstjustiz einen weniger trivialen Rahmen zu geben als jene Tankstelle, die in abermals exakter Nachbildung das Schlusstableau abgibt. Angesichts der philosophischen Dimensionen und der Gewalt des verhandelten Themas schrumpft der Realismus unversehens zu ebender dekorativ-eindimensionalen Staffage zusammen, die er, geschichtlich gesehen, immer schon war.

Umso mehr Raum öffnet sich, wenigstens hier am Ende, für die spätklassischen Klänge Cherubinis, die zuvor von der Bilderflut immer wieder gleichsam übertönt worden waren. Dabei sitzen die Wiener Philharmoniker, in reduzierter Besetzung und hörbar an allen Pulten gefordert, unter der Leitung von Thomas Hengelbrock auf der sprichwörtlichen Stuhlkante. Doch aller stilistischer Feinschliff, alle solistischen Glanzleistungen wirken seltsam matt, weil die Szene der Musik wie bei einem dichten Film einen Grossteil der Aufmerksamkeit entzieht. Um dem entgegenzuwirken, hätte es vielleicht eines Stars vom Format einer Maria Callas bedurft, die Medea nicht ohne Grund zu ihren Paraderollen zählte. In Salzburg sass, immerhin, Anna Netrebko im Premierenpublikum.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

Weitere Artikel