Christopher Malmten als König Ödipus
Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele
„Oedipe“

Rocky IV gegen das Schicksal

Kann es so etwas wie die Selbstbefreiung vom Schicksal geben? Ja. Zumindest bei diesen Salzburger Festspielen und in der Lesart von George Enescu und Achim Freyer zum drückenden Mythos des Ödipus. Die Premiere von „Oedipe“ in der Felsenreitschule wurde zu einem Boxkampf gegen die Macht der Prophezeiung. Das ändert zwar nichts an den Ereignissen. Aber wie in der modernen Medienwelt gilt: Am Ende gewinnt, wer die Deutungshoheit über den Stoff hat. Und die holt sich nach über 2.000 Jahren nun Ödipus zurück.

„Mythen entfalten sich in der Fülle ihrer Varianten.“ An diese Losung des Kulturwissenschaftlers Jan Assmann erinnert das Programmheft gleich zu Beginn. Und man darf diese Ansage ernst nehmen an diesem Abend, an dem man sich unter der präzisen musikalischen Führung von Ingo Metzmacher und seinem „Close Reading“ der Vorlage daranmacht, ein fast vergessenes Werk der Musikgeschichte zu rehabilitieren.

Hinweis

Ö1 überträgt die hörenswerte Oper Enescus am 17. August um 19.30 Uhr.

Es geht um die einzige Oper des Rumänen George Enescu, „Oedipe“, aus dem Jahr 1931, die so etwas wie einen ewigen Vorlauf hatte. Bereits in den 1910er Jahren, also genau zu der Zeit, da man dem Ödipus-Komplex den entsprechenden Namen gab und etwas tiefer stieg in der Systematisierung der Steuerungsinstanzen des Menschen, begann Enescu, dieses in Wien und Paris bereits gefeierte musikalische Talent, an diesem Stoff zu arbeiten. Und er schuf gemeinsam mit dem Librettisten Edmond Fleg so etwas wie eine neue Perspektive auf den Mythos. Einerseits wollte man sich tief in die mythische Geschichte der unentrinnbaren Verstrickung begeben – andererseits sollte, genau gegen die Vorlage des Sophokles, so etwas wie die menschliche Dimension dieses eigentlich unaufhaltbaren Stoffes gefunden werden.

Die Wiederentdeckung einer fast verschollenen Oper

Peter Schneeberger über die Hintergründe zur Oper „Oedipe“. Ingo Metzmacher erklärt dabei die Zugänge zur Musik Enescus.

Da sind die Unentrinnbarkeit des Schicksals, die Schuld, die schon auf die Schuld des Vaters zurückgeht, das frühe Erkennen von Ödipus, dass er in einer erdrückenden Form von Fremdbestimmung verstrickt sein wird – und am Ende die kurze Täuschung, man sei doch allen Vorhersagen entkommen.

Es gibt kein Entkommen, aber die Perspektive zählt

Doch auch bei Enescu und Fleg gibt es kein Entkommen. Ödipus, von den Zieheltern gerettet, wird seinen Vater erschlagen, unwissend seine Mutter heiraten, mit ihr Kinder zeugen – und am Ende als geblendeter, gefallener König sterben müssen. Aber, und hier liegt der Dreh dieser Oper: Ödipus knackt das Rätsel der Sphinx. Oder anders gesagt, er hält der Sphinx auf die Frage, was „größer als das Schicksal“ sei, eine beinah naiv-idealistische Festlegung entgegen: der Mensch. Das klingt aufklärerisch – ist es aber nur zum Teil. Denn Ödipus kommt erst nach dem Rätsel der Sphinx in die wahre Handlungsverstrickung der ursprünglichen Prophezeiung – und muss seine Selbsttäuschung schrittweise selbst entdecken.

Szenenbild aus Achim Freyers Oedipe-produktion
Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele
Eine Opernarbeit zwischen Wachheit und Traum vor den Arkaden der Salzburger Felsenreitschule

Wer bestimmt das Narrativ?

Der entscheidende Dreh gelingt ihm erst in einem großen vierten Akt. Er wendet sich von der Gesellschaft ab, nimmt an der Hand seiner Tochter Antigone das Schicksal an, wendet sich von allen Angeboten, in die Gesellschaft zurückzukehren, ab – und lernt in gewisser Weise von einem beinahe messianischen christlogischen Moment: Er selbst muss dem Mythos die neue Deutungskraft geben, er muss über das Narrativ, wie über Ödipus berichtet wird, selbst bestimmen – und dies seiner letzten Verbündeten, seiner in reinem Weiß dastehenden Tochter Antigone, quasi als Botin in die Hand geben.

Ödipus beansprucht die Deutungshoheit über den Mythos zurück. Das erspart das Sterben unter tragischen Umständen nicht – bringt aber allen Trost, weil hier ein Mensch stirbt, der ohne Fehl und Tadel, vor allem unwissentlich, seine Taten begangen hat.

Szenenbild aus einer Probe zu Achim Freyers Oedipus
Monika Rittershaus, Salzburger Festspiele
Ödipus richtet sich zu Beginn auf – doch im Hintergrund erscheint die Leitfigur des Abends: der blinde Tiresias

Eine Salzburger Antiken-Deutung

Kein Wunder, dass genau dieses Stück zu Salzburg passt wie beinahe ein zweiter „Jedermann“, der gleich die ganze Last der Antike in ein himmlisches Jerusalem hinaufkatapultiert. Wenig Wunder, dass man dies vor der Kulisse der Felsenreitschule und in der Wucht der Musik Enescus, die insgesamt so wirkt, als müsse man dem Menschen nicht nur die Angst vor den grausamsten Mythen nehmen, sondern gleich auch die ganze Angst zur Moderne, zelebriert.

Es ist eine „Tragedie lyrique“, die man hier bekommt, also die eng am gesanglichen Inhalt geführte Darbietung, die sehr in den Möglichkeiten der Formensprache der 1910er Jahre schwelgt. Enescu reichert alles an mit Orientalismen, auch den Erinnerungen an das Volksliedgut seiner Heimat. Das ist musikalisch sehr kurzweilig, es ist einnehmend – vielleicht aber noch nicht der Ersatz für das ewige Versprechen Salzburgs nach dem Zeitgenössischen.

Brillante Führungsarbeit

Metzmacher erweist sich an diesem Abend als führungsstarker, bis ins letzte Detail überkorrekter Arbeiter, in der Art, wie er Philharmoniker und die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor anleitet. Das erweist sich gerade in den Massenszenen des Abends als große Stärke. Enescus Stück ist in seinen Ansprüchen, so klassisch seine Instrumentenaufstellung wirken mag, nicht zu unterschätzen: Oft kippt das satyrhafte Kammerstück in eine Tour de Force zwischen Impressionismus und musikalischem Neoklassizismus. Und der Komponist wollte seine Oper als eine Art von Symphonie bauen.

„Oedipe“ in Salzburg

„Oedipe“ ist bei den Salzburger Festspielen noch am 14., 17. und 24. August zu sehen.

Heraus sticht an diesem Abend Christopher Maltman als Ödipus, der derart im Zentrum dieser Oper und Inszenierung steht, dass es alle anderen Sängerinnen und Sänger, mit Ausnahme vielleicht des zentralen und großartigen John Tomlinson als Tiresias, nicht leicht haben, auf eine entsprechende Wahrnehmungshöhe zu kommen. Das liegt nicht zuletzt an der Handschrift, wie Regisseur Freyer seine Gestalttherapie anlegt: Seine Liebe zur überzeichneten Figurenwelt führt dazu, dass alle Akteure Puppen ihrer selbst sind und teilweise unter Riesen-Apparat-Kostümen singen müssen. Ausgenommen Ödipus, er steckt übermuskulös in einer Boxerhose – und man darf an diesem Abend auch rein pragmatisch bewundern, wie Maltman den Abend unter der Masse seiner Schaumstoffmuckis übersteht.

Ein Überangebot an Ästhetiken

Freyer überzeichnet wie immer, sorgt auch dafür, dass sich immer etwas bewegt auf der Bühne der Felsenreitschule (was bekanntermaßen auch notwendig ist an diesem eindrucksvollen, aber so schwierigen Ort für eine Opernproduktion). Mitunter bietet er zu viele Ästhetiken an diesem Abend an, etwa wenn der Mord an Laios über eine große, blutbeschmierte Aufblaspuppe im rechten Bühnenhintergrund symbolisiert wird. So etwas passt zu Rammstein; hier hing leider irgendwie auch ein etwas zu groß geratener Pumuckl im rechten Bühnendunkel.

Die Macht des Schicksals, sie katapultiert den Menschen bei Freyer immer in embryonale Momente. So beginnt die Oper und endet auch mit dem Bild des strampelnden hilflosen Kindes. Die Selbstermächtigung des Menschen, sie blitzt kurz auf. Wenn wir schon sterblich sind und den Auflagen des Lebens nicht entkommen, dann bleibt uns, zumindest, die Geschichte über uns mitzubestimmen. Aus diesem Zugang sollen ja schon Weltreligionen entstanden sein.