Salzburger Festspiele: Der Boxer steht im Licht

Endlich hat es die Ödipus-Oper von George Enescu auch nach Salzburg geschafft. Ingo Metzmacher navigiert die Wiener Philharmoniker durch ein spätromantisch flutendes Meer aus Klangpracht, Achim Freyer verwandelt die Felsenreitschule in ein Traumtheater. Ein Triumph.

Eleonore Büning, Salzburg
Drucken

Zuerst ein Lamento-Intervall: Chiffre der Trauer. Dazu das Tremolo: Chiffre des Schreckens. Kontrabässe tasten sich sachte rückwärts und abwärts, unterdessen wird ein Kindlein sichtbar, nackt und allein liegt es in der Salzburger Felsenreitschule auf einer schrägen, schwarzen Fläche, die vollgekrakelt ist mit wirren Kreide-Runen. Es strampelt und spielt mit Händen, Zehen, Genitalien und hat einen unverwechselbar original-freyerschen Wasserkopf, einen runden Riesenschädel mit blauen Glupschaugen, den garantiert sofort jeder wiedererkennt, der in den letzten fünfzig Jahren einmal fürs Theater geschwärmt hat.

Bei ihm trifft jeder Schlag: Christopher Maltman in der Rolle des Œdipe. (Bild: Monika Rittershaus / SF)

Bei ihm trifft jeder Schlag: Christopher Maltman in der Rolle des Œdipe. (Bild: Monika Rittershaus / SF)

Ja, Achim Freyer hat es wieder getan. Er hat noch einmal seinen alten Traumzaubermantel vom Dachboden geholt, um ihn auszubreiten über einen ganzen Opernabend. Vielerlei verschiedene Geschichten hat Freyer schon auf diese Weise abgewandelt und sich einverleibt, er hat sie übermalt mit Metaphern und Archetypen, Ironie und Surrealismus. Hat Opernhelden ausgestattet mit Pappköpfen, Tierfratzen oder Riesenbrüsten und sie verfremdet zu Monstern oder Harlekins, umgeben mit Zwergen und Stelzenläufern. Auch diesmal sind sie alle wieder da, die Artisten und Clowns, die Chimären und Alraunen. Keine Spur von edler Einfalt, stiller Grösse ziert die antike Geschichte von Ödipus, der den Vater erschlug und die Mutter zur Frau nahm.

Verkanntes Meisterwerk

Mehr als ein halbes Dutzend Mal wurde sie schon vertont, aber nur eine einzige Bühnenkomposition erzählt Akt für Akt die gesamte Lebensgeschichte dieses von Gott und der Welt Verlassenen, vom Tag seiner Geburt in Theben über die Jugend in Korinth bis zu Verbannung und Tod im heiligen Hain auf Kolonos. Viele, die «Œdipe», einzige Oper des rumänischen Komponisten George Enescu, einmal gehört haben, bezeugten: Hier handele es sich um ein musikalisches Meisterwerk.

Und doch war ihr nach der spektakulären Uraufführung 1936 in Paris kein dauerhafter Erfolg beschieden. Nur insgesamt fünfzehn Mal wurde sie seither neu inszeniert, bis heute gibt es keine gedruckte Partitur. Erstens, weil «Œdipe», changierend zwischen Wagnérisme und Verismo, spätromantischer Tonalität und Vierteltönigkeit, weder stilistisch noch politisch ins Fortschrittsportfolio der Avantgarde passte. Zweitens ist die Oper aufwendig: Dreizehn Solisten müssen sein, dazu Chor samt Kinderchor, Tänzer, Statisten, Bühnenmusik sowie ein Sinfonieorchester von Festspielformat, mit doppelt besetztem Holz und Blech, Klavier, Celesta, Harmonium, Glockenspiel.

Trotz ihrer überbordenden Farbenfülle wirkt die Musik freilich allezeit klar und durchhörbar, ihre dramatische Komplexität erschliesst sich, wie in einer klassischen französischen Tragédie lyrique, unmittelbar aus der Deklamation. «Kein Pathos, keine Wiederholungen, kein unnötiges Geschwätz», hatte Enescu dazu einmal im Interview gesagt: «Das Publikum darf sich nicht langweilen. Der Hörer muss den Text verstehen.»

Ein Meer aus Klang und Bildern

Passt! An diesem Premierenabend sind jedenfalls alle ganz Auge und Ohr im Festspielhaus, niemand schläft. Dafür sorgt, neben der entfesselten freyerschen Phantasie, die der Musik allemal genügend Raum zur Entfaltung lässt, vor allem Ingo Metzmacher, der die phantastisch aufgelegten Wiener Philharmoniker mit Schwung und Präzision durch das agogisch pulsierende Meer aus Klangpracht navigiert.

Gleich zu Beginn, als Oberpriester und Volk zu boulevardeskem Harfenplinkern den königlichen Nachwuchs begrüssen, gräbt ein schwarzer Schatten bereits im Hintergrund dessen Grab. Flammen züngeln, Wasser rauscht, Menetekel kommen und gehen. Im Zeitlupentempo schnürt der blinde Seher Tirésias (John Tomlinson) vorbei, bohnenstangenlang, er wird dreimal aufs Stichwort wiederkehren, um machtvoll dröhnend seine Orakelsprüche zu überbringen. Auch König Laïos (Michael Colvin) und Königin Jocaste (Anaïk Morel) bewegen sich in Slow Motion: er von Kopf bis Fuss ein aufgeblasener Plastik-Transformer, sie ganz eitle blaue Blume. Der Transformerkönig will das hässliche Baby Œdipe loswerden, er durchsticht ihm mit dem Laserschwert mythosgerecht den Fuss. Was bleibt dem Kleinen da anderes übrig, als rote Boxershorts anzuziehen?

Im zweiten Akt ist Œdipe hübscher geworden, ein Muskelpaket um die zwanzig, noch immer trägt er seine Boxershorts. Christopher Maltman leiht ihm seine grosse, samtige, sichere Baritonstimme. Aus dem Schnürboden fallen schwarze Riesentränen, die sich als probate Säcke fürs Boxtraining erweisen, und siehe da: Jeder Schlag trifft, bei Blitz und Donner, sie sind zugleich das Mordinstrument. Als wären es die Wasser der Lethe, so quellen drei Stoffbänder aus dem Bühnenboden, die sich, von Zauberhand bewegt, zur Weggabelung formieren – jener Kreuzung, wo sich die Prophezeiung erfüllt und Œdipe zum Mörder wird. Eine grausige Szene, flankiert vom Aufbäumen des Orchesters: Schatten streunen vorbei, Hieronymus-Bosch-Tiere kriechen herein, halb Schere, halb Regenwurm, und Eve-Maud Hubeaux als düster leuchtende Sphinx, halb Zelt, halb pinkfarbene Plüschqueen, lacht sich tot zum Glissandoklang der singenden Säge.

Das Spiel geht auf

Im dritten Akt hat es der Boxer geschafft: Er ist König von Theben, Gatte der Mutter, zugleich Vater seiner Geschwister. Doch dann wird er aufgeklärt. In den Fensterhöhlen der magisch verkleideten Felsenreitschule leuchtet es auf, Créon nebst Phorbas legen Zeugnis ab, die Thebaner spucken Horror-Töne, und Œdipe blendet sich selbst. Rote Tränenschnüre laufen über seinen schneeweissen Boxer-Bademantel, als ihn Antigone ins Exil führt.

Am Ende aber haben Enescu und sein Librettist Edmond Fleg eigens einen vierten Akt erfunden, darin Blinde wieder sehend werden. Selbst die Musik wird hell und durchsichtig, tröstlich ziehen Chorstimmen oratorische Linien durch die Luft, Pathos inklusive. Ergreifend Maltmans letztes, grosses Arioso: wie in dem alten Song von Simon und Garfunkel steht der Boxer im Licht, als ein Mensch und Kämpfer von Beruf. Rollt sich anschliessend wieder zusammen, und spielt mit Händen, mit Füssen. Das Spiel geht auf. Es ist, wie in den guten alten Zeiten: wunderbar.