Salzburger Festspiele: Jetzt lässt Eurydike die Männer tanzen

Virtuose Artisten, prunkvolle Bilder und Sex-Appeal, der das Korsett beinah krachen lässt: Barrie Kosky holt das Maximum aus Jacques Offenbachs klassischer Operette «Orphée aux Enfers». Die eigentliche Hauptrolle aber spielt Max Hopp, der in der Rolle des John Styx ein wahrhaftiges Stimmwunder vollbringt.

Eleonore Büning, Salzburg
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Ein rechtes Teufelsweib ist diese Eurydike – sehr zur Freude des Herrn der Unterwelt. Kathryn Lewek und Marcel Beekman in der Salzburger Inszenierung. (Bild: Ernst Wukits / Imago)

Ein rechtes Teufelsweib ist diese Eurydike – sehr zur Freude des Herrn der Unterwelt. Kathryn Lewek und Marcel Beekman in der Salzburger Inszenierung. (Bild: Ernst Wukits / Imago)

Die öffentliche Meinung spricht schwedisch. Warum? Pure Höflichkeit! Oder vielmehr: ein Hofknicks. Königin Silvia persönlich sitzt mitten im Publikum, samt Gatte. Und so bietet die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter den Prolog in Jacques Offenbachs Operette «Orphée aux Enfers» gleich in ihrer Muttersprache dar.

Die schwedische Sängerin ist mit ihrem inzwischen zarter gewordenen Jungmädchentimbre bei durchaus robuster Rampensau-Aura für die Partie der «L’Opinion Publique» schlichtweg eine Idealbesetzung. Und damit ihr Part auch von allen übrigen Gästen im kleinen Festspielhaus verstanden werden kann, läuft nicht nur die Übertitelungsanlage zweisprachig mit; es läuft auch ein Schatten hinter von Otter. Er folgt ihr. Quatscht mal rechts, mal links über ihre Schulter. Heisst John Styx alias Max Hopp, war einst Prinz von Arkadien, ist jetzt Simultanübersetzer.

Stöhnen, Schmatzen, Tremolieren

Hopp mausert sich, kaum hebt sich der goldene Vorhang, im Handumdrehen zum Superstar. Er ist die höchste Trumpfkarte, die Regisseur Barrie Kosky von seiner operettensturmerprobten Komischen Oper Berlin nach Salzburg importiert hat. Als Diener Styx zuständig für die gesprochenen Dialoge seiner Herrschaft, in wechselnden Stimmlagen, «übersetzt» dieser traurige Mann im lila Frack rasend schnell alle Texte. Mit hochgezogenen Schultern schlurft er von Eurydikes Schlafzimmer in Theben über Jupiters Lampenladen im Olymp bis hinunter in die Geisterbahnhölle Plutos, um nebenbei auch noch pünktlich Tee zu servieren, sein kleines, brüchiges Couplet zu singen oder – von Fall zu Fall – all die Nebengeräusche zu erzeugen, die eine «semipornografische Offenbach-Operette» (O-Ton Kosky) so mit sich bringt. Hopp schnarcht, schmatzt, stöhnt, schreit: einer für alle.

Für Eurydike spricht er mit rauchigem Bardamen-Bass, die Bettfedern seufzen, wenn sie sich lüstern in die Kissen fallen lässt («oink, oink»). Orpheus, eitler Schöngeist, wird mit einer hysterisch säuselnden Stimmlage ausgestattet, seine frisch polierten Lackschuhe machen «klack, klack, klack», wenn er eifersüchtig hereinstürmt – und auch die Türangeln könnten, unüberhörbar, wieder mal geölt werden. Jupiter und Juno, Mars, Merkur und Pluto, sogar der Höllenhund («bark, bark»): Allen verleiht Hopp passende Pointen, Profil und Charakter. Nur das Tanzen übernimmt er nicht. Auch ihre Songs müssen die Kolleginnen und Kollegen schon selber singen.

Phantastisch hoch, synchron und temporeich die Sprünge der zwölf Artisten-Tänzer. Grosse Klasse die Klangsinnlichkeit der Wiener Philharmoniker, die unter Anleitung von Enrique Mazzola vorwiegend aus der kammermusikalisch durchleuchtbaren «kleinen» Partiturfassung von 1858 spielen. Marcel Beekman ist ein machtvoller Tenor-Pluto mit Tendenz zum Überschnappen. Martin Winklers Jupiter steht ihm darin nur wenig nach. Kathryn Lewek als Eurydike ist eine kräftige Koloraturschleuder mit todsicher platzierten Spitzentönen, nur ihre Corsage sitzt etwas zu stramm.

Recht grimmig schaut die Öffentliche Meinung (Anne Sofie von Otter) auf den eifersüchtigen Orpheus (Joel Prieto) nieder. (Bild: Ernst Wukits / Imago)

Recht grimmig schaut die Öffentliche Meinung (Anne Sofie von Otter) auf den eifersüchtigen Orpheus (Joel Prieto) nieder. (Bild: Ernst Wukits / Imago)

Kosky, darin luxuriös unterstützt von Kostümbildnerin Victoria Behr und Bühnenbildner Rufus Didwiszius, lässt keinen Augenblick Zweifel daran: Dieses Vollweib, umschwärmt von Göttern und Hirten, Fliegen und Bienen, ist nichts weiter als eine Original-Männerphantasie. Es gibt nur einen Grund, warum alle Herren in dieser Offenbachschen Gesellschaftsparodie des Zweiten Kaiserreichs vor der öffentlichen Meinung kuschen: Es ist Damenwahl. Jupiter heuchelt Moral, weil er um seinen guten Ruf fürchtet. Und Heuchelei ist zeitlos, das passt damals wie heute wunderbar, egal, ob Männlein, Weiblein oder Gendersternlein den Cancan tanzen.

Insofern reicht eine historisch inspirierte Darbietung völlig aus. Reich bestickt mit Swarovski-Steinen, gipfelt das Spektakel in einer zünftig-knalligen Transvestitenshow. Alle Nackten sind natürlich bekleidet (bis auf einen einzigen Herrn); alle Geschlechtsteile aufgemalt oder angenäht, alle Anstössigkeiten gemütlich verkalauert, alle zeitkritischen Zähne gezogen, und jeder Witz wird sauber umzingelt. Man fühlt sich bestens zerstreut, für ein Weilchen. Grosser Applaus.

Kommt Domingo?

Aber schon im Pausengespräch gab es dringlichere Themen. Was ist mit Placido Domingo und dem ihm nachgesagten Fehlverhalten gegenüber jungen Sängerinnen vor zwanzig oder dreissig Jahren? Wird er in Salzburg singen, am 25. August? Oder müssen wir die Karten zurückgeben?

Keine Sorge, alles gut. Er wird. Salzburgs Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler hat eine Erklärung veröffentlicht, in der sie als Juristin argumentiert: Immer noch gelte der Grundsatz «in dubio pro reo». Eine Vorverurteilung sei «menschlich unverantwortlich».

Auch Anne Sofie von Otter, die strenge, öffentliche Meinung, hätte etwas Substanzielles zu sagen zu den Mechanismen moderner Medienpranger. Vor einem guten Jahr hatte sie sich überwunden und im Interview der «Zeit» sehr offen und sachlich gesprochen über den Freitod ihres Mannes, des Theaterintendanten Benny Fredriksson, der von einem Shitstorm aus dem Amt gehebelt worden war. Lohnt sich, das nachzulesen. Steht immer noch im Netz.