Gefängnis der Erinnerung

Da muss etwas gewesen sein: Dinah (Xiaoyi Xu) erinnert sich in „Trouble in Tahiti“ an das frühere Glück mit Sam. Foto: Stephanie Werner
© Stephanie Werner

Das Staatstheater Darmstadt zeigt Variationen des paarweisen Unglücks in Kurzopern von Turnage und Bernstein.

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DARMSTADT. Der Peiniger ist tot, aber der Schmerz bleibt. „Twice through the Heart“ heißt die Oper von Mark-Anthony Turnage, zweimal durchs Herz hat die Frau ihren Ehemann gestochen, der sie ein Eheleben lang gedemütigt und geschlagen hat und neben dessen Leiche sie nun kauert. Ein Toter ohne Gesicht, aber mit mächtigem Körper, so greift er nach ihr und hat die Gedanken seines Opfers quälend fest im Griff.

Die Macht der Erinnerung wird in der Präsenz des Schauspielers Martin Bringmann physisch greifbar. Stephan Krautwald legt in seiner dichten Inszenierung die Zeiten dieses Geschehens, das an eine wahre Begebenheit angelehnt ist, geschickt übereinander. In den Kammerspielen des Staatstheaters durchlebt die Frau ihr eheliches Martyrium, die Augenblicke nach der Tötung und die Jahre danach in wenigen Minuten. In neun Gedichten beschreibt das Libretto von Jackie Kay die Situation dieser Frau, die aus Scham vor Gericht schwieg und als Mörderin verurteilt wurde.

Krautwald und der Dirigent Jan Croonenbroeck haben die Texte übersetzt, um sie noch näher ans Publikum heranzurücken. Aber eine Übertitelung wäre doch besser gewesen, man versteht leider nur Bruchstücke. Dafür aber baut das Kammerensemble aus Musikern des Staatsorchesters suggestive Räume, tastet Innenwelten ab, gibt dem Schmerz Ausdruck, modelliert Szenen: Croonenbroeck gelingt eine plastische Wiedergabe dieser Partitur, die sich nie im Ungefähren verliert, und die Mezzosopranistin Xiaoyi Xu verfolgt in feinen Klangschattierungen den Weg des Opfers, das zur Täterin wurde. Der Titel des ersten Gedichts, „No way out“, gibt das Thema vor, es gibt keinen Ausweg aus dem Gefängnis der Erinnerung. Aber dadurch bewegt sich auch nicht viel in diesem Stück, das in einer halben Stunde das Geschehen von Jahrzehnten in eine einzige, statische Situation fasst. So ist das Staunen über die Kunstfertigkeit dieser Musik größer als die innere Anteilnahme.

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Bei der zweiten Oper des eindreiviertelstündigen Doppelabends, der mit begeistertem Beifall aufgenommen wurde, verhält es sich umgekehrt. Die Stärke von Leonard Bernsteins Kurzoper „Trouble in Tahiti“ erkennt man erst, wenn man sich sehr angenehm durch elegante Melodien und süffige Harmonik durchgehört hat. Croonenbroeck leitet eine pointierte, swingende, impulsive Wiedergabe, die alles Überzuckerte meidet und so das Geschick offenbart, mit dem hier die Fassade einer glücklichen Ehe eingerissen wird: eine intelligente Musik, die auch ihre Schönheit als Werkzeug einsetzt, um die Selbsttäuschung zu beschreiben.

Dinah und Sam haben alles, was man sich wünscht, nur die Liebe ist ihnen abhandengekommen. Während das Libretto die Szenen des Alltags aneinanderreiht, macht Bernsteins Musik die Einsamkeit der beiden anrührend hörbar. Xiaoyi Xu lässt die Stimme in der ariosen Beschwörung glücklicher Tage leuchten, als sei Dinah nicht in dem imaginären Film „Trouble in Tahiti“ gewesen, sondern in einer Puccini-Oper. Und Georg Festl beherrscht neben dem kernigen Bariton auch zarte Töne in den vergeblichen Versuchen der Annäherung. Seine sportlichen Muskelspiele interessieren den Sohn (Nicolas Vrancic) wenig, der scheint gerade von einer Klima-Demo zu kommen und hat ein Plakat gemalt, auf dem eine Pacman-Figur die Erde frisst.

„Game over“, steht darauf, und das gilt auch für diese Beziehung. Die Paarstudie weitet sich in diesem Stück aus den fünfziger Jahren zur Gesellschaftssatire. Ein Terzett der Werbestimmen erzählt vom Konsum, der die innere Leere ausfüllt. Katrin Gerstenberger, David Pichlmaier und Keith Bernard Stonum im bunten Blumenkostüm von Annika Lohmann gefallen nicht nur mit blitzsauberem Satzgesang, sondern tragen auch so dick auf, wie es Krautwalds Inszenierung verlangt. War es früher die Werbung, die Maßstäbe setzte, so ist es heute die digitale Selbstinszenierung, weshalb das Reklame-Trio meistens auf mobile Bildschirme schaut.

Als Bühnenbild hat Martina Mahlknecht eine transparente Wandschräge entworfen, die Klötze darauf sind im ersten Teil düster grau, im zweiten geben sie sich als die bunten Häuser einer idealisierten Vorstadtsiedlung zu erkennen. Hinter ihren Fassaden ist es die Suche nach der verschwundenen Liebe, die beide Stücke miteinander verbindet.