Da prügeln sie die schöne Schweiz zu Brei – und doch geniesst man «Guillaume Tell» in vollen Zügen

Gioachino Rossinis «Guillaume Tell» ist eine klassische Befreiungsoper. An der Opéra de Lyon zeigt der Regisseur Tobias Kratzer mit einfachen Mitteln, dass die Gewinner oft zugleich die Verlierer sind.

Eleonore Büning, Lyon
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Vor dem betont kargen Bühnenbild kommt Rossinis Musik in allen Nuancen zur Geltung. (Bild: Bertrand Stofleth)

Vor dem betont kargen Bühnenbild kommt Rossinis Musik in allen Nuancen zur Geltung. (Bild: Bertrand Stofleth)

Hey, hier kommt Alex! Er ist wieder mit seinen Droogs unterwegs, alle ganz in Weiss, bewaffnet mit schwarzen Bowlern, bekifft von Rossini-Klängen. Aber diesmal erschlägt die Rasselbande des Grauens nicht, wie in Stanley Kubricks Kultfilm «Clockwork Orange», wahl- und sinnlos alte Männer und junge Frauen. An diesem Premierenabend, im Opernhaus zu Lyon, prügeln sie mit ihren Baseballschlägern die schöne Schweiz zu Brei. Und mit ihr zermanschen sie die alte Legende vom Echten, Wahren, Guten.

Es ist dies das Werk des noch leidlich jungen Regisseurs Tobias Kratzer, der schon öfters aufgefallen war mit radikalen Lösungen, aber erst neuerdings, nach seiner phantastisch doppelbödigen Bayreuther «Tannhäuser»-Inszenierung, aufstieg zu den Superstars am Regietheaterhimmel. Als Erstes führt er ein pulitzerpreisverdächtiges Foto des Eigers vor. Riesengross, pur, schwarz-weiss.

Weder Tracht noch Kuh

Die charakteristisch gekerbte Nordwand ist auch Sinnbild für die Reinheit der Natur oder gar die Nähe Gottes, so wie der Rütlischwur das ideelle Tafelsilber der Eidgenossenschaft repräsentiert. Mehr noch: Der Schwur steht, neben dem Sturm auf die Bastille, als Gründungsmythos für das Menschenrecht auf Freiheit, den Bürgermut der Demokraten, überall auf der Welt. So hatte Schiller es sich ausgemalt, das «einzig Volk von Brüdern», das den Tyrannen verjagt. So hatte Gioachino Rossini es vertont in dieser seiner prachtvollen letzten Oper, die 1829 in Paris herauskam und ein Erfolgsstück wurde, mit ihren Ranz des Vaches und der dreifachen Bauernhochzeit, Kampf und Gebet, grossen Chortableaux, innigen Liebesschwüren sowie gleich mehreren Gewittermusiken, weil die Natur den Rechtschaffenen gerne auch zweimal zu Hilfe eilt.

Allein die vierteilige «Tell»-Ouvertüre mit dem federnden Marsch inmitten und dem sentimentalen Sehnsuchtsquintett der geteilten Violoncelli zu Beginn ist ein Wunschkonzert-Hit erster Güte. Allerdings, weil es nach Kratzers Kopf geht, kommt so ziemlich alles, was als Lokalkolorit in Kitschverdacht geraten könnte, in der Lyoner Neuinszenierung nicht vor. Keine Alm, kein Dorf, weder Tracht noch Kuh. Auch keine Spur vom «Sombre Forêt», der so wunderkoloraturenreich besungen wird von der schönen, milden Fürstin Mathilde (Jane Archibald), die um der Liebe zu einem blitzblank strahlenden jungen Tenor-Schweizer willen (John Osborn) doch tatsächlich am Ende die politischen Seiten wechselt.

Nur den Apfel lässt Kratzer Apfel sein. Er ist einer der wenigen Farbflecken im Schwarz-Weiss dieser abstrakten, wie ein Lehrstück auf dem Reissbrett der Ideen platzierten Kunst-Schweiz. Und natürlich der tapfere Statisten-Knabe, von dessen Köpfchen der Apfel im dritten Akt heruntergeschossen werden muss.

Klarinetten zu Schwertern

Ein einsames Cello-Mädchen sägt zu Beginn der Oper still vor sich hin, vor dem Bergmassiv sitzend, während ein junges Paar, am anderen Ende der leergefegten Bühne, langsam und fliessend dazu den Pas-de-deux der Frischverliebten tanzt, dieses unsterbliche, immergleiche «Komm her, geh weg»-Spiel aus Hebung, Drehung, Relevés. Und schon entsteht einer dieser grossen magischen Opernaugenblicke: die Statistin mit dem Cello, dazu die von Daniele Rustioni, dem Chef des Lyoner Opernorchesters, mit glühender Intensität ausgekostete Eröffnungsmelodie und die von Choreograf Demis Volpi auf sparsame Bewegungen verpflichteten Tänzer: Man weiss nicht einmal genau zu sagen, wie und warum da die Zeit stehen bleibt. Und dann, wie gesagt, kommt Alex.

Stürmt mit Taktwechsel, Tremolo und seinen Hooligans die Bühne, sie verjagen die Tänzer, schlagen das Cello kurz und klein. Voilà, das Spiel hat begonnen. Die brutale Gang, geborgt aus dem Kinofilm, der sich wiederum bei Rossini bedient hatte, ist die Vorhut des Landvogts Hermann Gessler, der in der Oper «Gesler» heisst; von dem sonoren Bassisten Jean Teitgen mit drohenden Gesten ausgestattet, tritt er freilich erst spät selbst in Erscheinung. Zuerst ist die Schweizer Chorbevölkerung noch weitgehend unter sich, ihrerseits in rabenschwarze Konzertkleidung gewandet.

Statt des Wettbewerbs der Bogenschützen gibt es einen Musikwettbewerb. Statt Schwerter zu Pflugscharen umzubauen, verwandelt der Chor später seine Musikinstrumente in Waffen, aus Klarinetten werden Schwerter, Geigen verwandeln sich in Flitzebögen, Fagotte in Gewehre. Auch der namenlose kleine Statist, der Tells Sohn mimt, erst Wunderkind-Geiger, opfert sein Mini-Instrument der guten Sache. Seine grosse Schwester (Jennifer Courcier) singt etwas schütter und zart die entsprechende Chorknabenpartie, Papa Tell (zuverlässig: Bariton Nicola Alaimo) applaudiert stolz, und die glückliche Tellgattin Hedwige (Enkelejda Shkoza) verteilt fürsorglich die Suppe, wozu der gutbürgerliche Mittagstisch ebenso rasch herein- wie wiederum hinausgetragen wird. Immer dann, wenn sich von fern das Jagdhorn einmischt in die falsche Idylle, laufen schwarze Tränen über die Panoramafototapete. Der Berg weint.

Köstlicher Klang, bittere Essenz

Kratzer hat den Plot kurzerhand auf eine bittere Essenz reduziert, die da lautet: Gewalt gebiert Gewalt. Die Bühne (Rainer Sellmaier) bleibt weitgehend leer, das Licht (Reinhard Traub) unbarmherzig hell, die weisse Spielfläche, umstellt von schwarzen Stühlen, wird belebt immer nur von denen, die etwas zu singen und zu sagen haben, nach altem Brecht-Rezept. Auf diesem Hintergrund kann sich die Musik wie von selbst entfalten, fast wie in einer konzertanten Aufführung. Herrlich der Schmelz der Duette und Terzette, überwältigend schön und erschreckend die bewegten Chöre, eine Wucht die finalen Ensembles.

Immer dichter strömen die schwarzen Farbfluten, die die Eigernordwand nach und nach übermalen. Am Ende, nach der Schlacht, als der Tyrann endlich erschlagen ist, ereignet sich der Befreiungsjubel vor einer rabenschwarzen Wand. Und der kleine Tellensohn steht vom Mittagstisch auf, um sich bei einem der toten Droogs den Bowler-Hut zu holen: Fortsetzung folgt.