L.O.V.E. – ist Liebe nur ein Wort? Was bedeutet sie für uns im 21. Jahrhundert? Ist es eine hohle Phrase, gar bedeutungsleer? Oder verbirgt sich hinter ihr vielmehr etwas Komplexes und Unergründliches? Für Àlex Ollé, den katalanischen Regisseur und Teil des Künstlerkollektivs La Fura dels Baus, wird die Liebe, wie es der omnipräsente Schriftzug in großen Lettern auf der Bühne verrät, zum Dreh- und Angelpunkt seiner Inszenierung an der Oper Frankfurt und zugleich stetiger Antrieb als auch Verhängnis in Manons Leben.

Während Puccini in Manon Lescaut die Unsterblichkeit der Liebe und eine leidenschaftliche Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Beziehung porträtiert, wird das Werk in Ollés Augen zu einer scharfen Gesellschaftskritik: Konsumgier, Erfolgsstreben und Materialismus. Was die Sichtweisen beider jedoch verbindet, ist das unermüdliche Streben Manons nach Freiheit und ihr Wunsch nach sozialem Aufstieg – ohne die Aufgabe ihrer Liebe zu des Grieux. In ihrer Korrumpierbarkeit wird sie damit zu einer modernen Antiheldin, deren ganzes Leben aus einem Kampf zwischen Liebe und Luxus, Geld und Gefühl besteht.

Ollé macht aus Manon eine illegale Einwanderin, die in Europa die Erfüllung ihrer Träume sieht. Bereits vor Erklingen der Musik etabliert ein Video den Ausgangspunkt der Handlung: Manon, als Näherin in einem armenischen Sweatshop unter Mindestlohn und ausbeuterischen Bedingungen arbeitend, beschließt zusammen mit ihrem Bruder nach Europa zu fliehen. Nur das Nötigste mitnehmend, weite Strecken zurücklegend und sich durch Maschendrahtzäune schneidend, erreichen sie letztendlich Europa. Das Sujet der Flüchtlingsströme wurde bereits zahlreich auf den Opern- und Theaterbühnen europaweit thematisiert, dennoch ist Ollés Anliegen nicht zu Belehren, sondern vielmehr ein erneutes Wachrufen eines latenten Problems. In einer Gesellschaft, in der Prostitution, Menschenhandel und Sklaverei als Realität anerkannt werden, und gleichzeitig menschliche Schicksale auf sogenannte Obergrenzen reduziert werden, wird Manon zur Symbolfigur dieser Schicksale.

Die nur unweit der Oper gelegene Taunusstraße – das Zentrum des Frankfurter Rotlichtviertels – mag da als Inspiration für den zweiten Akt im Stripclub gedient haben. Dort verkauft Manon ihren Körper und finanziert ihr nach Luxus dürstendes Leben. In rotes Licht getaucht tanzen die spärlich bekleideten Frauen den Männern das Geld aus den Taschen und auch Manon tut es ihnen gleich. Eine Gesellschaft, in der man alles kaufen kann, alles sofort verfügbar ist, macht auch vor Menschen als Ware nicht halt.

Asmik Grigorian, erst kürzlich von der Zeitschrift Opernwelt zur Sängerin des Jahres gekürt worden, bewies, dass sie Puccini mit ebenso starker Überzeugungskraft, Rührung und Tiefe darstellen kann, wie sie dies bereits mit den Opern von Strauss oder Tschaikowsky zeigte. Ihre mühelose, frei fließende Stimme transportierte eindrucksvoll die bei Puccini so präsenten wie wichtigen großen Gefühle. Ihr samtener Sopran war emotionsreich und dennoch kontrolliert, in ihrer Gesamtdarstellung absolut bravourös.

Intendant Bernd Loebes neuester Coup als Stimmenkenner und -förderer scheint der amerikanische Tenor Joshua Guerrero zu sein. Dieser war Grigorian ihr in jeglicher Hinsicht ebenbürtig. Guerrero, der mit dieser Rolle sein Deutschland-Debüt gab, verkörperte des Grieux als liebevollen aber auch naiven Idealisten. Sein geradezu zum Schmachten einladendes Timbre, mit weichem Schmelz und seine expressive Rolleninterpretation ließen ihn verdient einen tosenden Applaus des Publikums ernten.

Iurii Samoilov überzeugte als rüpelhafter Rookie und Bruder Manons, voller Tattoos und moralisch bedenklichen Ansichten, denn die Korrumpierbarkeit scheint in der Familie zu liegen. Stimmlich und darstellerisch fügte sich der recht metallisch klingende Bariton in Ollés Produktion perfekt ein. Michael Porters Tenor erklang stimmschön als Edmondo und Donato di Stefano gab einen kernigen Geronte de Ravoir mit Buffocharakter.

Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter Lorenzo Viotti entfaltete satte Verismo-Klänge, mit einen farbenreichen und differenzierten, mitunter jedoch fast zu laut angefeuerten Dirigat. Die Leichtigkeit und das operettenhafte in Puccinis Musik – gerade im ersten Akt – ging da schon mal verloren. Dennoch vermochten sie es, die ganze emotionale Bandbreite seiner Musik einzufangen.

Wer in einer im Überfluss lebenden Gesellschaft überflüssig wird, dessen entledigt man sich und so landet Manon im Abschiebeknast, in enge Käfige eingesperrt. Nach dem kurzen Hoffnungsschimmer und Aufbruch in die Neue Welt mit des Grieux erreichen beide die Wüste von Louisiana. Das Bühnenbild ist nun trister denn je und auf den betongrauen L.O.V.E-Schriftzug reduziert und man fragt sich, ob Manon erkennt, ob Liebe alles ist, was sie braucht?

Alex Ollé liefert starke Bilder, dessen Inspiration nur zu sehr aus der Realität schöpft. Seine Inszenierung ist nicht immer hundertprozentig stimmig, hinterlässt jedoch einen bleibenden, zum Nachdenken zwingenden Eindruck. Während die Geschichte der Manon Lescaut im 18. Jahrhundert einen Skandal hervorrief, vermag sie heute kaum mehr zu schocken. Dennoch bleibt sie in ihrer Moralität – zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Gefühl und Verstand – ein zeitloses Sujet, das Ollé eindrucksvoll in den Kontext einer konsumorientierten, gierigen und unvermeidlich tragischen Gesellschaft einbettet, in der die Liebe zu einem weiteren Konsumgut zu verkommt.

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