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„Boris Godunow“ in Mainz: Blanke Not sieht sich stets ähnlich

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Derrick Ballard als Titelheld Boris Godunow.
Derrick Ballard als Titelheld Boris Godunow. © Andreas Etter

Mussorskijs große Oper „Boris Godunow“, ruhig und beunruhigend am Staatstheater Mainz.

Von einer ruhigen, dabei beunruhigenden Intensität ist die Aufführung von Modest Mussorgskijs Oper „Boris Godunow“ am Staatstheater Mainz. Die Inszenierung von Wolfgang Nägele ist zurückhaltend, ohne lasch zu sein, das Dirigat von Hermann Bäumer, vorzüglich unterstützt vom Orchester, hat einen Zug ins Große, auch regelrecht Lautstarke, ohne über die Vielfarbigkeit hinwegzugehen. Das wird noch deutlicher, indem die vom Komponisten überarbeitete Fassung samt Polen-Akt zum Einsatz kam. Mussorgskijs und nun auch Nägeles und Bäumers Polen ist eine andere Welt, kultivierter, delikater. Das macht nicht allein die Anwesenheit der schönen Marina – hier Linda Sommerhage als kühl agierende, blühend singende Sopranistin in der Gestalt eines barocken Garçons –, sondern auch die viel weniger archaische Musik. Putzig und höfisch erscheint das katholische Intrigantentum – Michael Dahmen als dezent effeminierter Jesuit – im Kontrast zur orthodoxen Moskauer Machtausübung, vorgeführt an den eingepeitschten Gesängen des ersten Aktes. Großartig dabei die Leistung des Mainzer Chores (einstudiert von Sebastian Hernandez-Laverny), der noch im donnernden Getöse seine Kompaktheit wahrt.

Die Kostümschau, die Annette Braun hier zum Teil bietet, passt sich in die unexaltierte, aber ebenfalls nicht fade Bewegungssprache ein. Es kommt auch zu regelrechten lebenden Bildern. Im ersten Akt sieht man die Verlorenen und Elenden der Gegenwart (indem die blanke Not sich über die Jahrhunderte furchtbar ähnelt), im vierten hat sich das in einen müden Karneval verwandelt. Die Geschlechter fließen, die Zeiten überlagern sich – hier kleine Pioniere, da windige Zuhältertypen mit Pelzkrägelchen und bizarre Comic-Draufschläger-Figuren, dort die glücklosen Zarenkinder, Marie Seidler und Daria Kalinina als zarte Engelchen. Nur Boris selbst trägt kurzzeitig ein Festgewand wie auf seinem eigenen Gemälde. Bis ihn der Wahnsinn einholt und er – behelligt vom Geist des legitimen Thronfolgers in maskierter Kindsgestalt – shakespearisch in Unterkleidung über die Bühne irrt (viel Shakespeare-Atmosphäre an diesem Abend, kann man zu allgemein finden, geht aber gut auf).

Derrick Ballard gestaltet die Titelpartie stimmlich machtvoll und sonor, in dieser Hinsicht ein würdiger Herrscher. Als Darsteller vermeidet auch er das allzu Drastische. Er bleibt ein verzweifelter Mann, wird nicht zur Karikatur des gescheiterten Despoten.

Dass er einem vermutlich nicht sehr nahe kommt – wobei die Sterbeszene an der Seite Seidlers als total hilflosem Zarewitsch absolut mitreißend ist –, liegt am schlaglichtartigen Vorgehen Mussorgskijs, auf das sich Nägele voll einlässt.

Die einfache Bühne von Stefan Mayer neigt zum Einkästeln, das Enge sorgt jedoch auch für die kammerspielhaften Situationen, die sich in der Musik nicht minder finden, und dazu für günstige klangliche Bedingungen. Strahlend im Grunde alle großen Partien – herausragend auch Alexander Spemanns greller Tenor für den schlimmen Wicht Schuiskij –, weitgehend ebenso das große Heer der kleinen, genrebildartigen Rollen. Nehmen wir nur Andrew Greenan und sein Ohrwurmlied von der Stadt Kasan, das uns den ganzen Sonntag über plagte. Das Premierenpublikum dreieinhalb Stunden später: erschöpft, aber hörbar beeindruckt.

Staatstheater Mainz: 10., 23., 29. November, 3., 29. Dezember. www.staatstheater-mainz.com

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