Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Beethovens Rettung

Opern-Kritik: Staatstheater Darmstadt – Fidelio

Beethovens Rettung

(Darmstadt, 26.10.2019) Mit einer Zeitreise wagt Regisseur Paul Georg Dietrichs einen atemberaubender Gang durch die Rezeptionsgeschichte von Beethovens einziger Oper.

vonRoberto Becker,

„Fidelio“ ist in die Jahre gekommen. Er ist in mancher Hinsicht eine Zumutung. Nach Mozarts und Da Pontes Meisterwerken zumal. Und dann diese gesprochenen Texte, der Aufbau, das Pathos. Dass Leonore ihren Mann Florestan gerettet habe, wie am Ende jubelnd verkündet wird, übersieht aber für den Moment, dass da vor allem ein Trompetensignal eine Rolle spielte und es letztlich ein Vertreter der Staatsgewalt und der Zufall einer Inspektion genau zum richtigen Zeitpunkt waren, die den exemplarischen Fiesling Don Pizarro daran hinderten, seinen alten Feind Florestan in die Grube zu schicken. Wobei man nicht mal weiß, wogegen Florestan die Stimme erhoben hatte und wofür sich Don Pizarro eigentlich so inbrünstig rächen will.

Aber Beethovens geniale Musik und die Rezeptionsgeschichte seit 1814 haben die Sympathien eindeutig zwischen Gut und Böse verteilt. Also zählt vor allem der gute Wille von Gattin Leonore. Was zählt, ist, dass der abenteuerliche Rettungsversuch am Ende gut ausgeht. Dass die Sache, mit dem errungenen holden Weib einen seltsamen Beigeschmack hat, lässt sich allemal einfach überhören. Ganz abgesehen davon muss man ja auch eine Brücke zwischen der Singspieltendelei zwischen Marzelline und Jaquino und der Haupt- und Staatsaktion hinbekommen und den klassischen Opportunisten Rocco einordnen.

Fidelio: Immer auch ein Statement für das Haus, das es auf die Bühne bringt

Aber Beethoven ist Beethoven. Ein Mann, der mit seinem Furor der Restauration am beginnenden 19. Jahrhundert die Stirn bot. So ist „Fidelio“ immer auch ein Statement für das Haus, das es auf die Bühne bringt. Gut geeignet für Eröffnungen und hohe Feiertage. Und nicht so lang wie die „Meistersinger“. Ganz gleich, wie weit man zum Libretto auf Distanz geht, neue Texte einfügt oder sie ganz streicht – was beides nur in seltenen Fällen gut geht, viel falsch machen kann man mit einem „Fidelio“ nicht, Ungerechtigkeit gibt es ja genug auf der Welt.

Ist das erlaubt? Beethovens Notentext aufbrechen?

Szene aus „Fidelio“ am Staatstheater Darmstadt
Szene aus „Fidelio“ am Staatstheater Darmstadt

An diese Überlegung knüpft Paul-Georg Dittrich mit seiner Inszenierung an. Vor einem Jahr hat er sie in Bremen herausgebracht, jetzt für das Staatstheater Darmstadt aber nicht einfach nur mit anderen Protagonisten neu einstudiert, sondern entscheidend weiterentwickelt. Und das in der denkbar radikalsten Weise. Die an sich schon recht originelle Zeitreise im ersten Teil, die mit einer Referenz an Hans Kresniks genialische Werft-Inszenierung von 1997 in Bremen endet, setzt er im zweiten Teil nicht nur punktgenau bis zum Tag der Premiere und der Einbeziehung der Zuschauer in Darmstadt fort, sondern kombiniert das jetzt mit einem Aufbrechen der Partitur. Dass manch ein Zuschauer so etwas als Sakrileg empfindet, ist wohl einfach der Konvention geschuldet, dass man bei gesprochenen Texten oder der szenischen Gestalt einer Interpretation mittlerweile so gut wie jede Freiheit zubilligt, wenn sie nur vor dem Notentext halt macht. Dafür gibt es auch gute Gründe. Aber, wenn man es so macht wie jetzt die Komponistin Annette Schlünz mit ihrer Bearbeitung des (für sich und pur genommen ziemlich problematischen) Finales, dann eröffnet das eine neue Sichtweise auf Beethovens hymnischen Schlussjubel, stellt seinen unverhohlenen, ja auch etwas verbissenen Optimismus in Frage, ohne ihn zu denunzieren. Unterbrechungen mit weitergesponnenen Motiven, auch betörend erweiternden Bläsern, Dissonanzen und dann immer wieder die Rückkehr zu Beethoven – das ist ein spannendes Abenteuer. Es weitet sich zu einem akustischen Blick auf die diffuser werdende Gegenwart von den Schultern des Meisters aus und hat nichts von einem Tritt vor dessen Schienbein, wie die paar eifrigen Buhrufe wohl meinten.

Die Orte und Aufführungsdaten sind auf Fidelios Haut wie ein Tattoo vermerkt

Der erste Teil des Abends ist zunächst ein atemberaubender Gang durch die Rezeptionsgeschichte des Werkes. Dafür hat Lena Schmid einen Rahmen aus Aufführungs-Daten und -Orten in den Bühnenhintergrund gesetzt, in dem Interpretationsansätze zitiert werden, in deren jeweiliger Gestalt die Handlung erzählt wird. Fidelio selbst hatte Anna Rudolph ein Kostüm verpasst, das auch für eine Amazone taugen würde. Ein Goldener Hosenanzug mit einem Oberteil, dass in seiner sozusagen weiblichen Hälfte schulterfrei ist. Die Orte und Aufführungsdaten, durch die uns Fidelio wie ein Conférencier leitet, sind auf der Haut wie ein Tattoo vermerkt.

Epochensprünge spiegeln Umbrüche der Gesellschaft

Szene aus „Fidelio“ am Staatstheater Darmstadt
Szene aus „Fidelio“ am Staatstheater Darmstadt

Die Zeitreise beginnt mit der Uraufführung am 23. Mai 1814 im Wiener Theater am Kärntnertor. Es folgt eine erste französische Version im Théâtre Lyrique in Paris am 2. Mai 1860. Jeder Zeitenwechsel wird mit zeitgeistig-politisierenden Videoüberblendungen verdeutlicht. So flimmern beim Epochensprung ins Werktätigen-Theater Leningrad und in das Jahr 1928 reichlich Lenin und Stalin über die Leinwand und die Proletkult-Inszenierung, für die Eisensteins berühmt gewordene Szene mit dem Kinderwagen auf der Treppe von Odessa (die auch Frank Castorf in seinem „Ring“ aufgegriffen hat) zitiert wird. In Aachen wird der „Fidelio“ am 15. und 20. April 1938 dann zu einem – übrigens von Herbert von Karajan dirigierten – Geburtstagsgruß an den reichlich im Video präsenten ersten Wagnerianer im Reich. Am 4. September 1945 war „Fidelio“ die erste Oper, die im zerstörten Berlin im provisorisch als Oper hergerichteten Theater des Westens wieder zu sehen war. Kassel schließlich war am 15. September 1968 auch in Sachen „Fidelio“ (wie danach mit dem „Ring“) ein Ort der Auseinandersetzung mit den Umbrüchen der Gesellschaft auch auf der Opernbühne.

Herbst 1989: Kunst trifft Wirklichkeit

In der Reichweite eigener Erinnerung liegt die Mielitz-Inszenierung an der Semperoper vom 7. Oktober 1989. Die Prophetie, die zum letzten hohen Feiertag der DDR, zwei Tage bevor deren Untergang unumkehrbar wurde, einen Gefangenenchor riskierte. So nah wie im Herbst 89 kommen sich Kunst und Wirklichkeit nur ganz selten. Nicht nur weil Bremen der erste Premierenort dieser Inszenierung war, auch mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte bot sich Hans Kresniks Operngeniestreich mit seinem Werft-„Fidelio“ vom 3. Oktober 1997 (wieder ein Feiertag, der aber hinterfragend konterkariert wurde) an.

„BEWEGT ES DICH?“

Diese Zeitreise macht einfach Spaß – dahinter verschwindet jede Ungereimtheit von Libretto und Handlung. Und doch bietet der zweite Teil mit dem radikalen Perspektivenwechsel vom Blick auf die Geschichte zum Blick auf uns selbst und der Frage in großen Lettern „BEWEGT ES DICH?“ noch eine weitere, neue Herausforderung. Die Nahaufnahme der Musiker beim Spielen (im Video) zur eingefügten 3. Leonoren-Ouvertüre und auf die Zuschauer beim Zuhören. Die Platzierung eines Teils der Zuschauer an einer großen Tafel auf der Bühne, auf der dann Florestan das Dunkel beklagt und von Leonore träumt. Die Interaktion mit diesen Zuschauern. Und dann die Öffnung der Musik in eine andere Welt. All das hat hier seinen besonderen Reiz. Auch wenn das mit der Tafel nicht so ganz schlüssig aufgeht (Pizarro hat eingeladen, dagegen soll dann revoltiert werden, was aber der ausdrücklichen Aufforderung bedarf..). Wie dem auch sei – im Prinzip funktioniert das Einreißen der vierten Wand dann doch. Denn es gibt den pathetischen Jubel und seine Infragestellung gleichzeitig. Damit treten der Regisseur und die Komponistin aber nicht Beethoven, sondern uns zu nahe. Was kann Oper mehr erreichen?

Starke Ensembleleistung

Szene aus „Fidelio“ am Staatstheater Darmstadt
Szene aus „Fidelio“ am Staatstheater Darmstadt

Vokal bietet Darmstadt eine geschlossene Ensembleleistung. Kerstin Gerstenberg ist eine großformatige, wagnergestählte Leonore. Sie versucht das auch gar nicht zu verbergen, sondern spielt es aus. Michael Pegher und Jana Baumeister gehen als Jaquino und Marzelline souverän durch die Zeiten. Marzelline bleibt in dieser Inszenierung mal die Peinlichkeit, sich in den bzw. die Falsche verliebt zu haben, erspart. Werner Volker Meyers Don Fernando ist szenisch nur ein Stichwortgeber. Mit donnernder Wucht gibt Wieland Satter den Pizarro, Dong-Won Seo ist ein solider Rocco ohne jede Betulichkeit. Der von Sören Eckhoff einstudierte Chor muss auch mit der zeitweisen Verteilung im Zuschauerraum klarkommen, was nicht so einfach ist. Daniel Cohen und sein Orchester bewältigen den Parforceritt durch die Geschichte und die Fenster öffnenden Novitäten im zweiten Teil bravourös! Ein „Fidelio“ als Rückblick und mit Nachwirkungen. Die Frage von der Bühne herab, ob er bewegt, die werden wohl viele mit „Ja“ beantworten können!

Staatstheater Darmstadt
Beethoven: Fidelio

Daniel Cohen (Leitung), Paul-Georg Dittrich (Regie), Lena Schmid (Bühne), Anna Rudolph (Kostüm), Kai Wido Meyer (Video), Katrin Gerstenberger, Heiko Börner, Dong-Won Seo, Wieland Satter, Jana Baumeister, Michael Pegher, Werner Volker Meyer

Auch interessant

Rezensionen

  • 2018 gab Rubén Dubrovsky sein Debüt am Gärtnerplatztheater München
    Interview Rubén Dubrovsky

    „Es geht um die Wurzeln der Musik“

    Rubén Dubrovsky, Chefdirigent des Gärtnerplatztheaters, geht musikalischen Dingen gerne auf den Grund und kommt dabei zu manch verblüffender Erkenntnis.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!