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Fidelio als Zeitreise in Darmstadt. Foto: © Nils Heck
Fidelio als Zeitreise in Darmstadt. Foto: © Nils Heck
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Fidelio wer? – „Fidelio“ von außen betrachtet – Paul Georg Dietrichs Zeitreise in Darmstadt

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Eine Reise durch die Rezeptionsgeschichte von Beethovens „Fidelio“ kreiert Regisseur Paul Georg Dietrich am Staatstheater Darmstadt, wobei sogar die Zukunft nicht ausgespart wird. Unser Kritiker Joachim Lange meint: „Man könnte einwenden, dass man sich mit dieser Methode der Interpretation alle ambitionierten Werke der Opernliteratur vornehmen könnte. Was auch stimmt. Man muss es aber erstmal machen. Und können. Dittrich kann.“

Darf man sich an einem musikalischen Heiligtum wie Beethovens „Fidelio“ vergreifen? Was die gesprochenen Texte betrifft, da hat mittlerweile kaum ein Interpretenteam Skrupel. Streicht man die ersatzlos, dann stellt sich gleichwohl ein Phantomschmerz ein. Ersetzt man die so entstandenen Lücken bspw. durch elektronische Klangflächen (wie Claus Guth es in Salzburg gemacht hat), dann riskiert man einen Aufstand im Parkett und ein Naserümpfen im Feuilleton. Auch wenn man neue Texte einfügt und die Geschichte so in Richtung Gegenwart überschreibt, dann geht auch das nur selten wirklich gut, wie ausnahmsweise bei Martin Mosbachs Beitrag für den Pariser „Fidelio“ vor elf Jahren. Das Problem sind die Hörgewohnheiten, die, früher oder später (wie bei der Zauberflöte oder dem Freischütz), jeden Widerstand aufgeben und das Gewohnte für das genau Richtige nehmen. Außerdem besteht Beethovens Musik nun mal auf der besonderen Melange aus Singspiel und Befreiungsoper.

Dass die Zeitläufte und ihre Wendungen noch allemal verstanden haben, vor allem das ausufernde (Befeiungs-)Pathos für sich zu vereinnahmen, das wird jetzt in der Inszenierung von Georg Paul Dittrich, die vor einem Jahr in Bremen herauskam, und die er jetzt für das Staatstheater Darmstadt vor allem am Ende noch einmal grundsätzlich überarbeitet hat, zum Prinzip der szenischen Umsetzung. Er erzählt die Rezeptionsgeschichte von Beethovens einziger Oper zunächst dicht an der Vorlage in wechselnden Bildern. Sozusagen wie in einem Wechselrahmen, den Lena Schmid als Bühne im Hintergrund platziert hat. Leonore ist von Anfang an wie ein Fremdenführer durch diese Zeitreise außerhalb der Szene präsent. Ohne Ehrgeiz wie der Mann Fidelio auszusehen in dessen Maske sich ja Leonore bei Rocco im Staatsgefängnis eingeschlichen hat, um an ihren Mann heranzukommen. Und ihn zu befreien. Allerdings auch ohne wirklich überzeugenden Plan, „Töt erst sein Weib“ ist es ja wohl kaum. Aus Pizarros Sicht käme es weder auf einen zweiten Mord an, noch würde er sich von einem Revolver in Frauenhand abschrecken lassen. 

Anna Rudolph hat für die Leonore Katrin Gerstenberger einen goldglitzernden Hosenanzug kreiert, der auf das Inkognito als Mann deutet. Aber das diagonal halbierte Oberteil ist auf der einen Seite weiblich schulterfrei, so dass die Orte und Jahreszahlen, die schon auf dem Bilderrahmen stehen, wie ein Riesen-Tattoo auf der Haut zu erkennen sind. Über dem Portal werden die Daten dann korrekt und vollständig eingeblendet. 

Die erste Szene erinnert an die Uraufführung vom 23. Mai 1814 im Theater am Kärntnertor in Wien. Die Zeit war da schon über den ursprünglichen revolutionären Furor hinweggegangen und Napoleon der besiegte Eroberer kurz vor der Verbannung, so dass die Teilnehmer des Wiener Kongresses das Befreiungspathos einfach auf sich bezogen. Der erste Szenenwechsel landet im Mai 1860 in Théâtre Lyrique in Paris. Da erzwang die Zensur eine Verlegung der Handlung ins Jahr 1495 und nach Mailand. Die nächste Station ist eine Proletkult-Version der Oper im Theater der Werktätigen in Leningrad von 1928 – mit einem Eisenstein-Zitat, jener berühmten Treppe in Odessa mit dem herab holpernden Kinderwagen. Pizarros Auftritt passt dann in eine Bebilderung, die im Stadttheater Aachen u.a. am 20. April 1938 als Geburtstagsständchen für Hitler mit Herbert von Karajan am Pult (miss-)verstanden werden wollte. Logisch, dass danach eine Inszenierung in den Trümmern des von ihm angezettelten Krieges in Erinnerung gerufen wird. Am 4. September 1945 war „Fidelio" die erste Oper, die in Berlin wieder aufgeführt wurde – der Zerstörungsnot gehorchend im provisorisch als Oper genutzten Theater des Westens. Alle diese Szenen werden von markanten Originalaufnahmen der jeweiligen Zeit überblendet und flankiert. Samt Kaiser, Hitler, Stalin und Konsorten. Als dann Rudi Dutschke Studentenunruhen anführt, geht es zur 68er Revolte in den Westen Deutschlands. Mit einer entsprechend ambitionierten Inszenierung des Stadttheaters Kassel vom 15. September 1968 mischte sich Ulrich Melchinger in den gesellschaftlichen Aufruhr ein.

Das tat auch Christine Mielitz mit ihrer Variante am 7. Oktober 1989 in der Semperoper Dresden. Also zu einer Zeit und an einem Ort als sich Zeitgeschichte und Kunst so nahe wie nur selten kamen. An eine Viertelstunde stehende Ovationen nach dem Gefangenenchor erinnern Zeugen im Programmheft. Für die erste Premiere lag es für Dittrich auf der Hand, die Zeitreise in Bremen durchs Ziel gehen zu lassen. Was auch nicht schwer fiel, denn so, wie Johann Kresnik dort am 3. Oktober 1997 das ganze Theater enterte und den Konkurs der Vulkan Werft zum Thema machte, wurde das zu einer der aufregendsten Fidelio-Inszenierungen der letzten Jahrzehnte. Obendrein eine, die sogar szenischen Witz hatte.   

Man könnte einwenden, dass man sich mit dieser Methode der Interpretation alle ambitionierten Werke der Opernliteratur vornehmen könnte. Was auch stimmt. Man muss es aber erstmal machen. Und können. Dittrich kann. 

Damit ist aber erst der historische Teil der selbstgestellten Aufgabe einer Fidelio-Hinterfragung gelöst. 

Beleibt immer noch die Frage nach dem Hier und Heute. Und da wird die Antwort radikal, verlässt die Ebene der Bebilderung und macht auch vor der Musik nicht halt. Nach der Pause sind wir im Hier und Jetzt. Die vierte Wand ist durchbrochen, ein Teil der Zuschauer sitzt auf der Bühne um eine weiße Riesentafel herum. Auf der Pizarro Florestan „serviert“. Und die Zuschauer zum revoltierenden Mittun animiert werden. Samt der Frage in großen Lettern „Bewegt es dich?“. Was Dittrich bis hierher an Stilmitteln verwendet, ist nicht umstürzend neu, auch nicht, was die Verweigerung der Bebilderung des Finales betrifft. Aber es ist gekonnt und mehr oder (bei dem Bild mit der Tafel) weniger konsequent und schlüssig. 

Neu ist jedoch der Mut zum Aufbrechen des Notentextes. Annette Schlünz hat nämlich die Musik der Finales neu bearbeitet. Die in Dessau geborene Komponistin hat u.a. bei Udo Zimmermann und beim Komponisten-Vater des Regisseurs Paul-Heinz Dittrich Komposition studiert. Sie bricht das Finale an einigen Stellen für Momente auf, und eröffnet in Raum und Zeit vorausgreifende assoziative Klangräume, die die hemmungslos jubelnde Utopie von Freiheit und Gattenliebe zwar nicht bloßstellen, aber doch hinterfragen, um dann immer wieder auf Beethoven zurückzukommen. Ein interessantes Experiment, bei dem Musiker im gesamten Opernhaus, also im Saal und auf dem Rang, aber auch draußen im Foyer, effektvoll zum Einsatz kommen.

Damit landet die Zeitreise der szenischen Interpretation nicht nur punktgenau in der Gegenwart der Premiere in Darmstadt, sondern verweist sogar in die Zukunft. Ohne so zu tun, als wäre sie eine Antwort auf die Frage „Fidelio, wer?“. Die Frage, ob es bewegt, kann jeder für sich an Ort und Stelle beantworten.

Daniel Cohen wirft sich mit seinem Orchester mit Lust in diese Abenteuerreise. Samt der eingefügten 3. Leonoren Ouvertüre und den aufbrechenden Novitäten, die ein ziemliches Maß an koordinierendem Überblick erfordern. Kerstin Gerstenberger in der Titelrolle setzt ihre gesamte gereifte stimmlich und darstellerische Autorität für ihre Leonore mit Würde ein, der damit jede Hosenrollenpeinlichkeit erspart bleibt.  Heiko Börner ist ein vokal standfester Florestan.

Michael Pegher (Jaquino) und Jana Baumeister (Marzelline) sind souverän, zumal sie sich mehr auf den Wandel der Zeiten, als auf die Psychologie der Gefühle besonders bei Marzellina konzentrieren können. Imposant ist Wieland Satters Pizarro, seriös solide Dong-Won Seo als Rocco. Bei dem von Sören Eckhoff einstudierten Chor wird die Koordination bei seiner Verteilung im Raum sicher noch wachsen. Paul-Georg Dittrich hat mit dieser Arbeit die Rezeptionsgeschichte von Beethovens einziger Oper jedenfalls eindrucksvoll in Szene gesetzt und ihr zugleich ein eigenes Kapitel hinzugefügt.

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