Am Scheideweg: Orfeo und Euridice dürfen die Unterwelt verlassen. Doch nicht nur Pluto steht ihrer Rückkehr ins Leben entgegen. (Bild: Judith Horváth / Grand Théâtre de Genève)

Am Scheideweg: Orfeo und Euridice dürfen die Unterwelt verlassen. Doch nicht nur Pluto steht ihrer Rückkehr ins Leben entgegen. (Bild: Judith Horváth / Grand Théâtre de Genève)

Der Sänger aller Sänger wird von Bacchantinnen zerrissen

Die Oper Genf bringt Claudio Monteverdis «L’Orfeo» in einer gewagten Neufassung heraus, die dem Original näher kommen will. Leider versucht sich der Dirigent auch an der Inszenierung.

Thomas Schacher, Genf
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Die barocke Operntradition forderte, von ihren Anfängen an, ein Happy End. So wurden die tragischen Stoffe der griechischen Mythologie kurzerhand umgeformt, damit sie dem Publikum keine schlaflosen Nächte bereiteten. Bei Claudio Monteverdis «L’Orfeo», 1607 am Hof von Mantua uraufgeführt, geht das so: Orfeo hat die Chance, seine verstorbene Gattin Euridice aus dem Hades in die Welt der Lebenden zurückzuführen, verwirkt, weil er sich auf dem Weg verbotenerweise nach ihr umgesehen hat. Nun ist er wieder in Thrakien, allein, und beklagt sein Schicksal. Da erscheint sein Vater Apollo als Deus ex machina, fordert ihn zum Verzicht auf seine Leidenschaft auf – und nimmt ihn mit in den Götterhimmel.

Am Grand Théâtre de Genève wird eine andere Fassung gezeigt, eine tragische: Statt Apollo tritt der Weingott Bacchus mit seinen Bacchantinnen auf. Die entfesselten Frauen rächen sich an Orfeo, weil er ausschliesslich auf Euridice fixiert ist, und reissen ihn in Stücke.

Beweisstück

Diese Fassung stammt vom ungarischen Dirigenten Iván Fischer, der keck behauptet, es handle sich dabei um die Originalfassung von «L’Orfeo». Produziert hat er sie mit seiner Iván Fischer Opera Company für das Vicenza Opera Festival, das er letztes Jahr gegründet hat. Die Uraufführung war im September in Budapest, in Vicenza ging das Stück im Oktober über die Bühne des Teatro Olimpico; jetzt ist die Aufführung an der koproduzierenden Oper Genf zu sehen.

Fischers «Beweisstück» für seine Version ist das gedruckte Libretto von Alessandro Striggio, das tatsächlich den Bacchantinnen-Schluss überliefert. Ob Monteverdi für die Uraufführung dieses tragische Ende vertont hat, weiss man nicht; eine entsprechende Musik ist nicht vorhanden. Und in der gedruckten Partitur, die er zwei Jahre später veröffentlichte, ist das Werk mit der bekannten Apotheose überliefert. Andererseits ist Fischers Hinweis darauf, dass das tragische Finale mit der antiken Tradition des Orpheus-Mythos konform geht, ein starkes Argument.

Das Problem der nicht vorhandenen (oder verschollenen) Musik löst Fischer wagemutig so, indem er die Schlussszene einfach selber komponiert hat. Das klingende Resultat ist erstaunlich stilsicher: Wer «L’Orfeo» nicht kennt, könnte nicht auf Anhieb sagen, wo Monteverdis Musik in Fischers Komposition übergeht. Überhaupt überzeugt die Genfer Aufführung auf der musikalischen Ebene.

Die Barockformation des Budapest Festival Orchestra spielt auf historischen Instrumenten, Fischer dirigiert am Notenpult einer Organo di legno. Die Aufstellung des Orchesters (im nur leicht abgesenkten Orchestergraben) mit den hellen Streich- und Flöteninstrumenten auf der linken und den dunklen Zinken und Posaunen auf der rechten Seite widerspiegelt sinnfällig den szenischen Kontrast zwischen der bukolischen Ober- und der furchterregenden Unterwelt. Im Ganzen kommt Fischers Interpretation, wenn man sie mit massgeblichen Deutungen des Werkes vergleicht, über weite Strecken allerdings recht weich, wenig geschärft und bisweilen etwas behäbig daher.

Noch herrscht eitel Sonnenschein in Thrakien. Doch die böse Schlange lauert gewiss schon in der Kulisse. (Bild: Judith Horváth / Grand Théâtre de Genève)

Noch herrscht eitel Sonnenschein in Thrakien. Doch die böse Schlange lauert gewiss schon in der Kulisse. (Bild: Judith Horváth / Grand Théâtre de Genève)

Der Orfeo von Valerio Contaldo braucht denn auch etwas Anlauf, um in Fahrt zu kommen. Bei «Possente spirto», der grossen Beschwörung des Caronte in der Unterwelt, gewinnt er dann mächtig an Profil. Wogegen der Basso profondo von Antonio Abete noch dämonischer klingen dürfte. Die Euridice von Emöke Baráth, eine relativ kleine Rolle, gefällt mit einer warmen, geschmeidigen Barockstimme. Gut besetzt ist auch das Herrscherpaar der Unterwelt mit dem noblen Bariton von Peter Harvey als Plutone und dem leidenschaftlichen Sopran von Núria Rial als Proserpina.

Mangelndes Handwerk

Iván Fischer tritt bei dieser Produktion nicht nur als Dirigent und Komponist in Erscheinung, sondern auch als Regisseur. Dies gereicht der Produktion allerdings nicht zum Vorteil, denn Fischer ist ersichtlich kein professioneller Regisseur. Beflügelt von seiner Idee der musikalischen Restaurierung des «Orfeo», ist er bestrebt, auch die Inszenierung in einem restaurativen Geist zu zeigen, und er will sich diesen Ansatz offenkundig nicht von einem zu sehr interpretierenden (und in seiner Sicht verfälschenden) Vertreter der Zunft verderben lassen. Doch es mangelt am Handwerk: Die Personenführung ist simpel, oft statisch; die Kostüme von Anna Biagiotti lehnen sich brav an antike Vorbilder an; und die von Sigrid T’Hooft in historisierender Absicht choreografierten Tänzchen der Hirten und Nymphen erinnern an Schüleraufführungen.

Inspirationsquelle für das Bühnenbild von Andrea Toccio ist das Teatro Olimpico von Vicenza, ein Renaissancebau von Andrea Palladio aus dem Jahr 1585, der den antiken Theatern der Griechen und der Römer nachempfunden ist. Während in Vicenza vor dem originalen Bühnenhaus gespielt wurde, wird dieses Bühnenhaus in Genf auf eine Lamellenwand projiziert. Drei bogenförmige Öffnungen in der Wand geben den Blick frei auf dahinterliegende virtuelle Räume, die durch Videos von Vince Varga bald eine liebliche Graslandschaft, bald einen blutrot schimmernden Unterweltsfluss darstellen. Real gespielt wird nur auf dem Proszenium, während der Hauptteil der riesigen Genfer Bühne ungenutzt bleibt.

Am Schluss wird der statische Charakter der Inszenierung freilich überraschend aufgebrochen. Zu seiner eigenen Musik fällt Fischer plötzlich auch inszenatorisch etwas Deutendes ein, und zwar durchaus Provokantes: Mit einem angeschnallten Phallus bedroht Bacchus die Bacchantinnen, diese entmannen ihn und verwandeln ihn flugs in eine Statue, die als Botticellis Venus auf einer übergrossen Muschel steht. Orfeo selbst tritt in der Schlussszene nicht mehr auf – per Video ist nur noch sein Haupt zu sehen, das sich allmählich in Einzelteile auflöst. Etwas spektakulärer hätte diese Pointe schon ausfallen dürfen.