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Das Böse in uns
Von Thomas Molke /
Fotos: © Björn Hickmann (Stage Pictures)
Robert Louis Stevensons Novelle Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde gilt neben Mary Shelleys Frankenstein und Bram Stokers Dracula zu den bekanntesten Schauerromanen der spätviktorianischen Zeit, die die Kunst und Kultur bis heute beeinflusst haben. Mit dem Doppelgängermotiv ist die Geschichte um den Arzt Dr. Henry Jekyll, der sich bei einem Selbstexperiment in sein Alter Ego, den durch und durch von seinen Trieben beherrschten Edward Hyde, verwandelt, auch für die Psychologie ein sehr interessantes und lang erforschtes Thema. Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich der US-amerikanische Komponist Frank Wildhorn gemeinsam mit Leslie Bricusse und Steve Cuden dieses Stoffes angenommen und daraus ein Musical geformt, das ihm nicht nur in den USA zwei Tony-Nominierungen und einen derart großen Erfolg beschert hat, dass von ihm 1999 als erstem US-amerikanischen Komponisten seit George Gershwin drei Musicals gleichzeitig am Broadway gespielt wurden. Nach der deutschen Erstaufführung im Musicaltheater Bremen 1999 mit Ethan Freeman in der Titelpartie, stieg Wildhorns Bekanntheitsgrad auch in Europa rasant an. Nun hat das Theater Dortmund dieses Stück auf den Spielplan gestellt und bewegt sich, was die Ausstattung, Besetzung und Inszenierung betrifft, auf absoluter Augenhöhe mit den kommerziellen Musical-Tempeln. Dr. Jekyll (David Jakobs, vorne Mitte) will das Gremium des St. Jude's Hospital überzeugen, seine Forschungen zu unterstützen (von links: Lady Beaconsfield (Johanna Schoppa), Sir Archibald Proops (Thomas Günzler), General Lord Glossop (Johannes Knecht), Sir Danvers Carew (Tom Zahner), Gabriel John Utterson (Morgan Moody), Lord Savage (Georg Kirketerp), der Bischof von Basingstoke (Mario Ahlborn) und Simon Stride (Florian Sigmund)). Wildhorns Fassung weist zur Novelle einige Änderungen auf. Während Stevenson die Handlung aus verschiedenen Perspektiven in unterschiedlichen Textformen nicht chronologisch, sondern mit zeitlichen Sprüngen erzählt, verfolgt das Musical den Verfall Jekylls stringent. Auch erweitert Wildhorn die Figurenkonstellation um zwei Frauen, die im Leben des Dr. Jekyll und Mr. Hyde eine bedeutende Rolle spielen. Da ist zunächst Lisa Carew, Jekylls Verlobte aus gutem Hause, die dem Geheimnis ihres zukünftigen Gatten auf den Grund gehen will und auch nicht davor zurückschreckt, gegen seinen Willen sein geheimes Labor zu betreten. Lucy Harris, die Hure, hingegen, macht vor allem Bekanntschaft mit dem triebhaften Mr. Hyde. Sie wird zwar einerseits von der dunklen Seite des Mr. Hyde magisch angezogen, ist andererseits aber auch von der guten Seite des Dr. Jekyll fasziniert. Als Jekyll ihr Geld gibt und sie auffordert, die Stadt zu verlassen, um sie vor Hyde in Sicherheit zu bringen, zögert sie zu lange und fällt Hyde zum Opfer. Auch die englische Upperclass wird von Wildhorn mit ihren moralischen Abgründen stärker herausgearbeitet. Wenn Hyde nach und nach die grauen Eminenzen der Kirche, des Militärs und des Gerichts umbringt, wirkt es fast wie ein Rachefeldzug des Bösen gegen sich selbst. So ist es auch nur konsequent, dass Jekyll in einem letzten Moment der Klarheit dem Bösen in sich Einhalt gebietet und seinen Freund Utterson auffordert, ihn zu erschießen. Die Bevölkerung Londons (Opernchor) hat Angst: Ein Mörder geht um. Die Inszenierung von Gil Mehmert besitzt durch den geschickten Einsatz der Drehbühne ein enormes Tempo, da die Szenen ohne Umbaupausen nahtlos ineinander übergehen und einzelne Figuren teilweise auch bei ihren Songs wie in einem Film durch verschiedene Räume laufen können. Jens Kilian hat auf der Drehbühne ein viergeteiltes Bühnenbild konzipiert, das mit jeweils zwei sich gegenüberliegenden Außen- und Innenräumen das Publikum in das viktorianische England eintauchen lässt. Durch kleine Umbauten im Off lässt sich so ein Krankenzimmer in einen Sitzungssaal verwandeln, der ein paar Szenen später benötigt wird. Sogar der einfahrende Zug wird angedeutet, vor den Hyde ein Mitglied der besseren Gesellschaft stößt. Aus dem Schnürboden wird gegebenenfalls ein Fenster herabgelassen, das dann das Innere einer Kirche andeutet. Auf der linken Bühnenseite ist eine Wendeltreppe angebracht, die hinab in Jekylls Labor führt, das durch das Hochfahren der Bühne sichtbar wird. Die zahlreichen schäumenden und leuchtenden Elixiere unterstützen den unheimlichen Charakter dieses Ortes. Im Hintergrund befindet sich in der Mitte ein fahler Spiegel, in dem Jekyll im zweiten Akt die Auseinandersetzung mit Hyde sucht. Von Hyde wird eine dunkle Fratze auf den Spiegel projiziert, die scheinbar mit Jekyll, der vor dem Spiegel steht, kommuniziert. Wenn die Fratze spricht, dreht sich Jekyll stets zum Spiegel, so dass für den Zuschauer klar ist, dass er gegen sich selbst kämpft. Die Kostüme, für die Falk Bauer verantwortlich zeichnet, sind ebenso opulent gehalten wie das Bühnenbild und unterstreichen die Vision des viktorianischen Zeitalters. Verwandlung mit Folgen: Aus Dr. Jekyll (David Jakobs) wird Mr. Hyde. Die Besetzung kann ebenfalls als absolut hochkarätig bezeichnet werden. Die Titelpartie ist mit David Jakobs besetzt, der in Dortmund zu Beginn seiner Karriere 2011 als Jerry Lukowski in The Full Monty von David Yazbek zu erleben war und drei Jahre später das Publikum als Judas in Webbers Jesus Christ Superstar begeisterte. Sein Name dürfte zahlreiche Musical-Fans nach Dortmund ins Opernhaus gelockt haben. Großartig vollzieht er mit einem kleinen Handgriff die Verwandlung des Dr. Jekyll in Mr. Hyde. Während er als Jekyll seine Haare zu einem strengen langen Zopf gebunden trägt, löst er sie, wenn er zu Hyde mutiert und macht durch eine völlig veränderte Körperhaltung deutlich, dass er nun ein ganz anderes Wesen ist. Auch seine Stimme erhält im Sprachduktus und beim Gesang eine ganz andere Farbe, wenn Jekyll sich in Hyde verwandelt hat. Ein musikalischer Höhepunkt ist natürlich sein großer Song "Dies ist die Stunde", in der er absolut feierlich plant, das Experiment an sich selbst durchzuführen. Wie rational er dabei zu Beginn vorgeht, bis der Versuch plötzlich außer Kontrolle gerät, wird von Jakobs glaubhaft dargestellt. Regelrecht gruselig gestaltet er musikalisch die folgende Verwandlung, und Hydes erster Song "So lebendig" jagt dem Zuhörer einen Schauer des Entsetzens über den Rücken. Mr. Hyde (David Jakobs) sucht Lucy (Bettina Mönch) auf. Ensemble-Mitglied Morgan Moody legt Jekylls Freund und Anwalt Gabriel John Utterson sehr zurückhaltend an. Mit absolutem Schrecken beobachtet er die Verwandlung im Labor und setzt alles daran, seinen Freund zu retten. Großartig gestaltet er Uttersons inneren Kampf, wenn er Hyde am Ende erschießen soll, es aber nicht über sich bringt abzudrücken, so dass Jekyll/Hyde schließlich selbst den Abzug betätigt. Milica Jovanović punktet als Lisa mit leuchtendem Sopran und intensivem Spiel. Dieser jungen Frau nimmt man es durchaus ab, dass sie es mit Hyde aufnehmen kann. Selbst als er droht, sie vor dem Altar zu töten, wenn Utterson ihn nicht erschießt, glaubt sie immer noch daran, das Böse in Jekyll besiegen zu können. Bettina Mönch ist als Lucy Harris ein weiterer Glanzpunkt des Abends. Großartig vollzieht sie nach ihrem sehr lasziven Auftritt mit "Schafft die Männer ran" einen Wechsel zu einer sehr verletzlichen Frau, die sich nach der Misshandlung durch Hyde Jekyll anvertraut. Weiterer musikalischer Höhepunkt ist ihr Duett mit Jovanović "Nur sein Blick", in dem beide Frauen davon träumen, den geliebten Mann zu retten. Die englische Upperclass ist größtenteils mit Chormitgliedern besetzt, die die Verlogenheit der Figuren deutlich herausarbeiten. Zu erwähnen ist hier vor allem Johanna Schoppa als Lady Beaconsfield. Auch der übrige von Fabio Mancini einstudierte Opernchor punktet durch große Spielfreude und überzeugt stimmlich vor allem bei den beiden Nummern "Fassade" im ersten Akt und "Mörder, Mörder" zu Beginn des zweiten Aktes. Die Choreographien der Tanz- und Massenszenen werden von Simon Eichenberger überzeugend umgesetzt. Christoph JK Müller steuert mit den Dortmunder Philharmonikern einen frischen und peppigen Musical-Sound aus dem Graben bei, so dass es für alle Beteiligten großen Jubel und stehende Ovationen im voll besetzten Opernhaus gibt. FAZIT Das Theater Dortmund hat wieder einmal bewiesen, dass es sich in der Sparte Musical auf absoluter Augenhöhe mit den kommerziellen Musical-Tempeln bewegt. Gil Mehmert findet einen mitreißenden Zugang zum Stück.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Choreographie
Licht
Chor
Dramaturgie
Dortmunder Philharmoniker Opernchor Theater Dortmund Statisterie Theater Dortmund
Solisten Henry Jekyll / Edward Hyde Gabriel John Utterson Lisa Carew Lucy Harris Sir Danvers Carew Der Bischof von Basingstoke Simon Stride / Polizist Lady Beaconsfield Lord Savage General Lord Glossop Nellie, eine Prostituierte Sir Archibald Proops Spider, ein Zuhälter / Priester Poole, Butler / Bisset, Apotheker /
Polizist Zeitungsjunge / Girl Girls
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