Opernhaus Zürich: Zu viel Schoggi-Glace macht blind

Die Familienoper «Coraline» von Mark-Anthony Turnage erzählt eine spannende Geschichte, Nina Russis Regie ist schlau, und gut gesungen wird am Opernhaus auch. Dennoch gibt es ein Problem bei diesem Stück.

Tobias Gerosa
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Her mit den süssen Äuglein: Coraline (Deanna Breiwick) und ihre seltsame «Andermutter» (Irène Friedli). (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Her mit den süssen Äuglein: Coraline (Deanna Breiwick) und ihre seltsame «Andermutter» (Irène Friedli). (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Welch verlockende Vorstellung: Hinter einer geheimnisvollen Tür befindet sich die gewohnte Welt – nur schöner und viel spannender. Hier ist alles grau, dort wächst der Salon direkt in den Urwald. Hier nerven die Eltern, dort verwöhnen sie. Hier gibt’s Linsenstampfsuppe, dort Schoggi-Glace à discrétion. Hier gehen Arbeit und Haushalt vor, dort sollen alle Wünsche sofort erfüllt werden.

In ihrem neuen, noch ganz fremden Haus, findet die elfjährige Coraline eine solche Tür hinter der Kaminabdeckung und betritt die verlockenden, aber gefährlichen Gefilde im «Anderhaus» der «Andermutter» (die als überbeschäftigte Schriftstellermutti wie als fiese Hexe sehr präsente Irène Friedli). Dort könnte Coraline alles haben, liesse sie sich ihre Augen durch Knöpfe ersetzen. Aber natürlich hätte das dann viel weiter gehende Folgen.

Das Opernhaus Zürich bringt diese Geschichte als vorweihnachtliches Familienstück heraus. Kinder werden es, wie die meisten guten Kinderstücke, auf gänzlich anderer Ebene rezipieren als ihre erwachsenen Begleiter – das zeichnet die rabenschwarze Vorlage von Neil Gaiman aus, und so wurde es in der Trickfilm-Fassung von 2009 umgesetzt. Der britische Komponist Mark-Anthony Turnage brachte 2018 in London eine eigenständige Opernversion heraus, die nun erstmals in der Schweiz zu sehen ist.

Wenig Kontur

Die Musik macht es dabei weder Kindern noch Erwachsenen leicht. Sie setzt dramatische und raunende Akzente, leidet chromatisch mit ihrer Hauptfigur und lässt die siebzehn Instrumente im Graben in vielerlei Mischungen spielen. Auch wenn Bläser und Schlagzeug dabei prominente Rollen bekommen: Ins Ohr geht kaum etwas. Immer wieder werden bei den Nebenfiguren der skurrilen Nachbarn oder des Vaters Tanzrhythmen à la Bernstein angespielt – und gleich sind sie wieder verflogen. Die Musik ist keineswegs zu avantgardistisch – in dieser Hinsicht ist Kindern allerhand zuzumuten, sofern es gut aufbereitet wird; das haben frühere Familienopern am Opernhaus längst gezeigt. Sie wirkt schlicht zu wenig konturiert.

Durch den Kamin geht es hinüber in die andere Welt. Coraline (Deanna Breiwick) hat vorerst genug davon. (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Durch den Kamin geht es hinüber in die andere Welt. Coraline (Deanna Breiwick) hat vorerst genug davon. (Bild: Herwig Prammer / Opernhaus Zürich)

Das gilt auch für die Handlung. Wichtiges läuft da fast unbemerkt, verschiedene Handlungsstränge – wie die Geschichte des entführten «Andervaters» – verlaufen nach ihrer Einführung im Nichts. Es ist nicht ganz einfach, da immer zu folgen, auch wenn die Dirigentin Ann-Katrin Stöcker nicht nur für musikalische Genauigkeit sorgt, sondern auch für sehr textverständliches Singen.

Liegt es vielleicht gerade an der Sprache? Vieles, namentlich die wichtigen Gespräche zwischen der Titelheldin Coraline und ihren Eltern und Ander-Eltern, wird im von Kerstin Schüssler-Bach übersetzten Libretto von Rory Mullarkey im flotten Parlando verhandelt. Das Deutsche klingt dabei reichlich betulich, Dialoge und Reime hölzern, und die elfjährige Protagonistin spricht im zweiten Akt plötzlich wie ein Kriegsheld. Gut vorstellbar, dass das im englischen Original deutlich besser funktioniert.

Bühnenzauber

Nina Russi, Regieassistentin am Opernhaus, mit dem Götz-Friedrich-Preis der Deutschen Opernstiftung ausgezeichnet und nun auch in Zürich erstmals mit einer eigenen Regie auf der grossen Bühne betraut, hat es folglich nicht einfach, sie macht aber das Beste daraus. Stefan Rieckhoffs Bühne kann innert kürzester Zeit zwischen den beiden Welten wechseln, sie hält ein paar überraschende Verwandlungen bereit und wird geschickt durch den Einsatz von Videos belebt. Das unterstützt die klare und exakte Regie.

Klugerweise hält Russi den Unterschied zwischen «normaler» und «Anderwelt» klein. Das Unheimliche wirkt so eher untergründig, und Deanna Breiwick als Coraline wird zur sympathischen Identifikationsfigur. Nur eine sich verselbständigende, lebensecht über die Bühne schweifende Hand macht ihr gegen Schluss diese Position streitig.