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Die tote Stadt: Marlis Petersen (Marietta), Jonas Kaufmann (Paul). Foto: Wilfried Hösl.
Die tote Stadt: Marlis Petersen (Marietta), Jonas Kaufmann (Paul). Foto: Wilfried Hösl.
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Korngolds „Die tote Stadt“ wird im Münchner Nationaltheater gefeiert

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Endlich! München, die einstige „Hauptstadt der Bewegung“, deren Theater sich eifrig den braunen Kulturbarbaren angedient haben, hat ein Spielplan-Defizit. Auch im Bereich des Musiktheaters ist die alles Staunen werte Phalanx von Komponisten, die schon lange vor 1933 widerlich abqualifiziert und dann nicht mehr gespielt wurden, lang und breit. Nach 1955 jetzt endlich eine Serie von Korngolds „Opernhit von 1920“ – doch die Freude unseres Kritikers Wolf-Dieter Peter blieb nicht ungetrübt.

Unerfreuliches um diese erste Opernpremiere der Saison: der 35jährige Regisseur Simon Stone wird als Star gehypt; der damalige Basler Intendant Andreas Beck lässt ihn 2016 erstmals Oper inszenieren; Korngolds „Tote Stadt“ wird so ein Erfolg, dass die Bayerische Staatsoper die Produktion für 2019 einkauft; dem inzwischen ans Bayerische Staatsschauspiel gewechselten Andreas Beck lässt Stone eben die Eröffnungspremiere kurzfristig platzen – wegen eines Filmprojekts; deswegen sitzt Stone auch nicht einmal in der Generalprobe der mit vergrößert-neuem Bühnenbild und neuer Besetzung einzustudierenden Korngold-Premiere am Regiepult; die halbe Neuproduktion betreut die als „Mitarbeit Regie“ genannte Maria Magdalena Kwaschik; in der Premiere verbeugt sich Stone aber als Regisseur… dennoch kein Buh für frühreife Star-Arroganz.

Die einhellige Begeisterung verdient zunächst die musikdramatische Seite der Produktion. Kirill Petrenkos Sicht der faszinierend reichen Partitur des 23jährigen Korngold beeindruckt. Die wagnerianisch-spätromantische Riesenbesetzung des fabelhaft aufspielenden Bayrischen Staatsorchesters - von sieben Kontrabässen über Orgel, Windmaschine, Glocken bis zu Blechbläsern in der Proszeniumsloge – fächerte Petrenko feinstimmig auf. Immer wieder dämmten energische Wischbewegungen seiner linken Hand den Klang auf sängerfreundliches Volumen ein. Mehr als in klangopulenten Interpretationen war die frühreife Feinsinnigkeit Korngolds zu bewundern, menschliche Gefühlslagen musikalisch zu gestalten: als dunkles Brüten, klagende Einzelstimme, ariose Schwelgerei, abgründige Ausbrüche, zirzensische Fröhlichkeit, intime Zärtlichkeit, sehnsüchtiges Beschwören und zart hoffnungsvolles Verklingen in fast filmisch wirkenden Schnitten. Denn eine derartige Geisterbahn der Gefühle muss der um seine früh verstorbene Frau Marie zunächst heillos trauernde Paul durchwandern. Er muss mit der lebens- und liebeslustigen Marietta als äußerlicher Wiedergängerin seiner Marie durch ein sexuelles Fegefeuer und eine emotionale Achterbahn bis zum vermeintlichen Mord und Zusammenbruch gehen. Erst dann kann er womöglich in ein selbstbestimmteres Leben aufbrechen. Diese enormen Herausforderungen führten Jonas Kaufmann als Paul an vokale Grenzen; Marlis Petersen gelang die quirlige Sinnlichkeit der Marietta beeindruckend; aus den bestens besetzten Nebenrollen heraus machte Bariton Andrzej Filończyk als Pierrot die Romanze „Mein Sehen, mein Wähnen“ zum anrührend zarten Höhepunkt des musikalisch auch in Kinder-, Nah- und Fern-Chor glänzenden Abends.

Doch auch szenisch gehört der Abend zum Überzeugendsten der letzten Jahre. Ralph Myers gewollt banale Investorenhausfront „Nr. 37“ zeigt auf der Drehbühne zunächst eine übliche, heutig möblierte Raumfolge. Doch so wie eine hinter einer Kommode versteckte Tür in Pauls Trauerkapelle mit der Haarpracht der toten Marie als Reliquie führt, so fächert sich das Haus parallel zu seinen Visionen und Alpträumen in ein Lebens-Labyrinth mit dunklen Zwischenräumen auf – ein Hauch von den venezianischen Wasserstraßen der „Ville mort“ Brügge stellt sich ein; Marie als mehrfache, kahlköpfige Wiedergängerin geistert durch die Räume; eine Kirchenprozession umringt das Haus schützend wie bedrohlich einschließend; vorherige Türen oder Fenster sind plötzlich zugemauert. Stones Regie führt den „Trauerfall Paul-Maria-Marietta“ analytisch-szenisch klar verfolgbar vor und lässt dennoch die Grenzen zwischen Realität und Vision dauernd gekonnt verschwimmen. Musikdramatisch überhöhtes, erstklassiges Theater mit auch heute aktueller Problematik – dafür zu Recht einhellige Zustimmung.

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