Star-Reigen für «Die tote Stadt» an der Bayerischen Staatsoper

Jonas Kaufmann, Marlis Petersen, Kirill Petrenko: In München wird die aus Basel übernommene Produktion von Korngolds Opernkrimi zum Ereignis – vor allem dank der ungewöhnlichen Ausgestaltung der Musik.

Marco Frei, München
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Glück, das ihm (nicht) verblieb: Paul (Jonas Kaufmann) kann den Krebstod seiner geliebten Frau Marie (Marlis Petersen) nicht verwinden. Aber schenkt ihm deren Wiedergängerin Marietta wirklich Trost? (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Glück, das ihm (nicht) verblieb: Paul (Jonas Kaufmann) kann den Krebstod seiner geliebten Frau Marie (Marlis Petersen) nicht verwinden. Aber schenkt ihm deren Wiedergängerin Marietta wirklich Trost? (Bild: Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper)

Die Bungalows sind geblieben, jene spektakulären Schachtel-Räume, die der Bühnenbildner Ralph Myers entworfen hat. Auch die geheimnisvolle Tote – hier eine Krebspatientin – geistert weiterhin durch die Szenerie. Es ist die schöne Marie, sie war mit Paul verheiratet, bis die Krankheit sie dahingerafft hat. Mit ihrer magischen Präsenz über den Tod hinaus sowie den sich ständig wandelnden Bungalow-Räumen arbeitete Simon Stone bereits in seiner hochgelobten Inszenierung von Korngolds Oper «Die tote Stadt», die im September 2016 am Theater Basel Premiere hatte. Jetzt erlebt die Regie in München ihre Auferstehung, durchaus passend zum Stück.

Eine eigentlich an der Staatsoper geplante Neuproduktion soll wegen einer entscheidenden Absage nicht zustande gekommen sein. Viel hat sich denn auch seit der Basler Premiere vor drei Jahren nicht getan, szenisch jedenfalls. Zumal die Proben in München nicht vom vielbeschäftigten Stone selbst angeleitet wurden, sondern von der Assistentin Maria-Magdalena Kwaschik. So wurde die Inszenierung weniger «revidiert», geschweige denn weitergedacht, vielmehr der Bühne des Nationaltheaters angepasst – also vergrössert. Was sich dagegen grundlegend geändert hat, ist die musikalische Seite: Sie lässt am Ende auch Stones Regie in neuem Licht erscheinen.

Liedhafte Intimität

Das gelingt am Nationaltheater dank der überragenden Leistung von Kirill Petrenko am Pult des Bayerischen Staatsorchesters und einer durchwegs exzellenten, treffsicher gewählten Besetzung. Statt in die Larmoyanz-Falle zu tappen, hat Petrenko die überbordende Partitur des erst 23 Jahre alten Wunderkindes Korngold radikal entschlackt. Mit dieser Reduktion legt er eine stille Intimität frei, die zwar vom Komponisten gewollt und vom Notentext gedeckt ist, aber viel zu selten so klar herausgearbeitet wird.

In dieser differenzierenden Sicht wird deutlich, dass die zentralen Momente der Musik eben keine ausladenden Arien oder Ariosi sind, sondern Lieder – ganz intim und still. Die Klammer der Oper bildet das zum Wunschkonzert-Superhit avancierte «Lied vom treuen Lieb, das sterben muss»: «Glück, das mir verblieb». Im ersten Akt stimmen es Marietta und Paul noch gemeinsam an, am Ende singt er es allein. Das «Lied des Pierrot Fritz» steht hingegen im Zentrum des zweiten Akts. Und wie Marlis Petersen als Marie (und deren Wiedergängerin Marietta), Jonas Kaufmann als Paul und Andrzej Filończyk als Fritz diese Lieder in München ausgestalten – das geht unter die Haut.

Erst im Sommer hatte Petersen im Rahmen der Münchner Opernfestspiele als «Salome» debütiert, und auch in ihrer schillernden Doppelrolle bei Korngold gelingt der Sopranistin jetzt eine dichte Charakterstudie. Sie ist eine Vollblut-Sängerdarstellerin, schlüpft in die Rollen, als wären sie ihr auf den Leib geschrieben. Nicht zuletzt Kaufmann lässt sich davon merklich inspirieren. Das ist durchaus staunenswert, weil die Produktion einmal mehr offenbart, dass Kaufmann seinen stimmlichen Zenit inzwischen überschritten hat.

Sein Piano wirkt am Premierenabend noch brüchiger und im Timbre gaumiger als sonst. Aber: Genau diese Klanglichkeit passt vorzüglich zu dem in sich versponnenen, vormals stolzen Charakter des Paul, der nicht wahrhaben will, dass seine schöne Frau Marie gestorben ist. Seither meint er, sie überall zu erblicken, die junge Marietta hält er gar für Maries Wiedergängerin. Und das Unglück nimmt – wie später ähnlich in Hitchcocks «Vertigo» – seinen Lauf.

Befreiung von Tabus

Kaufmann und Petersen zeichnen die beiden durchweg als ein ungleiches Paar, und Petrenkos Reduktion der Musik unterstützt sie dabei in der Weise, dass auch die ohnehin feinfühlige Regie von Stone nochmals an Tiefenschärfe gewinnt. In der Trauer ist nämlich der Mensch auf sich allein zurückgeworfen. Das Drama spielt sich in der Kammer ab – ganz privat, in den eigenen vier Wänden. Genau das macht Petrenkos liedhafte Intimität hörbar, und in dieser Klanglichkeit verwandeln sich auch die Bungalows in Stones Inszenierung in vielschichtige Seelenräume.

Sie engen Paul einerseits buchstäblich ein, halten ihn gefangen in seiner Trauer. Andererseits wechselt das Geschehen fortwährend die Perspektive, bis alles ineinandergreift: Sein und Schein, das Drinnen und das Draussen, auch Diesseits und Jenseits. Dabei wird deutlich, dass Paul nicht bloss einen Verlust aufarbeiten muss, sondern zugleich ein Trauma. Als Gespenst im weissen Krankenhemdchen geistert die tote Marie durch die Welt Pauls. Der Krebs hat die einstmals Schöne entstellt: kahlköpfig, hager, blass, ohne Kraft.

Es sind diese traumatischen Bilder, die Paul nicht zur Ruhe kommen lassen. Indem Stone die Todesursache von Marie klar aufzeigt (das Libretto schweigt dazu vielsagend), verbindet er die Trauerarbeit mit einem Tabubruch: Krebs ist zwar eine Volkskrankheit, aber in der Welt des schönen (Opern-)Scheins, wo es doch eigentlich ständig um Tod und Sterben geht, ist das nur selten Thema. Stone bricht das Schweigen – wie vor ihm der 2010 verstorbene Multikünstler Christoph Schlingensief, der seine Krebserkrankung öffentlich und zum Thema seiner späten Bühnenprojekte machte.

Trost im Verlust

Und so steht Jonas Kaufmann alias Paul am Ende allein im Raum. Ihm ist das «grausam’ Machtgebot» nun vollends bewusst geworden: Der Tod trennt die Gestorbenen unwiederbringlich und brutal von den Lebenden. «Harre mein in lichten Höh’n», singt er, «hier gibt es kein Aufersteh’n», und die brüchige Klarheit in Kaufmanns Stimme berührt zutiefst. Der Teufelskreis von Illusion und Selbsttäuschung scheint durchbrochen, in diesem Sinn ist Paul der Heilung ein Stück näher gekommen. Er entzündet ein Foto seiner geliebten Toten und legt es liebevoll in einen Metalleimer. Dann fällt der Vorhang. Es ist ein tröstlicher Moment.