„Wir arme Leut!” singt Wozzeck und meint damit wohl nicht nur seine materielle Armut, sondern auch unbewusst seine geistige. Sein Unvermögen, Emotionen auszudrücken, Bindungen aufzubauen und Liebe zu zeigen. Zwischen seinem eigenen Unvermögen, forcierter Demaskulinisierung und Degradierung durch seine Mitmenschen und der Abhängigkeit von anderen ist die Moral etwas, das er sich „nicht leisten“ kann. So wird er zu einem exemplarischen Antihelden, der im Lichte der aufkeimenden Psychoanalytik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts durch Alban Bergs Komposition den Zeitgeist der Weimarer Republik widerspiegelt.

Wozzeck bewegt sich zwischen seiner eigenen Introversion, einem durch Armut auferlegten Egoismus und der dementsprechend zweitrangigen Stellung von Moral. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral”, schrieb Bertolt Brecht schon in seiner Dreigroschenoper. In einer Gesellschaft, in der Armut stigmatisiert wird, die von Moralisierung besessen ist und über jeden urteilt, trifft das Werk auch heute noch auf Aktualität und zeitlose Prägnanz.

Andreas Kriegenburg siedelt seine Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper in der Zeit der literarischen Vorlage Büchners in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, bewegt sich visuell aber durchaus auch in den 1920er Jahren. Stummfilmtafeln kündigen die kommenden Akte an und das Geschehen spielt sich größtenteils in einem Diorama ab – einem großen Kasten, der auf der Bühne schwebt und die Stube Mariens darstellt. So könnte Wozzeck auch in einem heruntergekommenen Berliner Hinterhof, kurz nach Ende des ersten Weltkriegs, wohnen; in einer engen Wohnung, ohne Fenster, mit vergilbter Tapete und undichter Decke, durch die der Regen tropft. Die Inszenierung erinnert stark an Bilder von Otto Dix und George Grosz, die das Großstadtleben der Weimarer Republik und die Armut der einfachen Menschen auf eindringliche Weise festhielten. Passender dazu könnte Bergs Musik, fungierend als Symphonie der Großstadt, kaum sein.

Trotz ihres Alters (die Premiere der Produktion war 2008) hat sie nichts an Bedeutung und Intensität verloren. Die hervorragende besetzte Wiederaufnahme verdeutlicht erneut die Zeitlosigkeit ihrer zentralen Themen: Armut und Moral. Die konzise Handlung entfaltet in bildhaften Momentaufnahmen ein expressionistisches Drama, in deren Mittelpunkt einfache Leute stehen, die sich täglich mit ihrem eigenen Elend konfrontiert sehen und nicht moralisch, sondern geradezu „aus der Not heraus” handeln.

In wenigen Opern sind Gesang und Darstellung so stark miteinander verknüpft wie bei Wozzeck und so verlangt sie nach SängerdarstellerInnen, die diesem Anspruch gerecht werden können. Nachdem herausragende Sänger wie Michael Volle und Georg Nigl Wozzeck in Kriegenburgs Inszenierung gesungen hatten, übernahm nun Christian Gerhaher diese Rolle. Er sang die Partie zum ersten Mal in München und tat dies mit gefühlvoller Intensität aber auch kühler Zurückhaltung. Der ebenso erfahrene Opern- wie Liedsänger, elegant zwischen Sprache und Gesang changierend, zeichnete ein facettenreiches Rollenporträt. Mit seiner elektrisierenden Bartitonstimme schuf er eine feine und filigrane Interpretation, die seinesgleichen sucht.

Die Sopranistin Gun-Brit Barkmin interpretierte Marie als komplexe, aber auch ihren Trieben und Wünschen unterlegende Frau. Sehnsüchtig nach Liebe und Berührung scheitert sie letztlich und muss sich Wozzeck und sich selbst stellen. Barkmin sang variationsreich mit breitem Register und meisterte mit ihrer markanten Stimme den Spagat zwischen Sprache und Gesang. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke wurde den stimmlichen Anforderungen der Rolle des Hauptmann mehr als gerecht. Charaktervoll und stimmstark, bewies er bravourös einen Instinkt für die überspitzte aber dennoch eindrucksvolle Interpretation seiner Rolle. Auch John Daszak als temperamentvoller, souveräner Tambourmajor und Jens Larsen als ruchloser und grotesker Doktor im Steampunk-Frankenstein-Kostüm fügten sich darstellerisch in die zeitlose Ästhetik der Produktion nahtlos ein.

Während am Vortag mit Korngolds Die Tote Stadt mit seiner in Melancholie versinkenden, reich verzierten Musik noch die spätromantische Seite der 1920er Jahre erklang, holte die harsche, moderne Musik Wozzecks das Publikum auf den harten kalten Boden der Realität zurück.

Hartmut Haenchen, der mit Wozzeck zum ersten Mal eine Produktion der Bayerischen Staatsoper dirigierte, überzeugte mit einem ebenso komplexen wie detailreichen, dabei stets transparent bleibendem Dirigat. Er schaffte es in den kammermusikalischen Momenten der Oper eine eindringliche, intime Interpretation Bergs Musik zu formen. Zugleich verfehlte es seine Wirkung nicht, wenn Haenchen kontrastierend dazu das Orchester zu den nahezu kakofonen, aber nicht unstrukturiert geführten Tuttipassagen düster aufbrausen ließ – mit überbordend einfallendem Pauken und Trommeln und einschneidend klirrenden Xylophon. Er entfaltete so die ganze Vielfalt der Partitur und gab jeder Szene – ob Marsch, Fuge oder Passacaglia – seinen eigenen Charakter und schuf mit dem Bayerischen Staatsorchester einen musikalisch besonderen und dramatisch vielschichtigen Wozzeck.

Ob 1820, 1920 oder 2020 – Armut und Moral bleiben Sujets, die stark miteinander verknüpft sind, und stets Raum in unserer Gesellschaft einnehmen. Alban Bergs Wozzeck zeigt die Abgründe des menschlichen Daseins in all ihrer Spielarten und Kriegenburg illustriert dies mit einer Inszenierung, die den Titelhelden nicht als Irren darstellt, sondern auf allzu menschliche Weise einen Mann porträtiert, dem Armut, die Gesellschaft und sein eigenes Streben nach Seelenfrieden so stark zusetzen, dass seine Ausweglosigkeit die Geschichte in einer Katastrophe gipfeln lässt. Eine zutiefst moralische Geschichte.

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