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Opern-Kritik: Deutsches Nationaltheater Weimar – Lanzelot

Auf nach Weimar!

(Weimar, 23.11.2019) Peter Konwitschny inszeniert Paul Dessaus grandiosen „Lanzelot“, der zum Pflichtprogramm für jeden Opernliebhaber mutiert.

vonChristian Schmidt,

Große Worte erfordern sparsamen Einsatz. Aber man darf es vorwegnehmen – was das Deutsche Nationaltheater Weimar in Kooperation mit den Erfurter Kollegen ausgegraben hat, verdient ohne Umschweife den Titel „Sensationserfolg“. Paul Dessaus monumentale Oper „Lanzelot“ auf ein Libretto von Heiner Müller, inszeniert von Altmeister Peter Konwitschny, wird mitten in der thüringischen Provinz zu einem der sehr seltenen Glücksfälle, die Originalität, Aussagekraft, künstlerische Potenz und Unterhaltungswert auf beeindruckende Weise in sich vereinen.

Paul Dessau: intern gefürchtet, nach außen gefeiert

Lanzelot - Juri Batukov (Charlesmagne), Emily Hindrichs (Elsa) und Máté Solyom-Nagy (Lanzelot)
Lanzelot – Juri Batukov (Charlesmagne), Emily Hindrichs (Elsa) und Máté Solyom-Nagy (Lanzelot)

Die 1969 an der Berliner Staatsoper herausgekommene Adaption der auf die Artussage und Andersen zurückgehenden Märchenkomödie „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz war dazumal von Dessaus Frau Ruth Berghaus mit großem Erfolg inszeniert, in den Westen exportiert und hernach schnell in die Archive versenkt worden. Klug widmete der Komponist, der als früh überzeugter Kommunist in den Anfangsjahren der DDR an die Überlegenheit des Sozialismus glaubte, sein zum 75. Geburtstag uraufgeführtes Stück „allen, die für den Sozialismus kämpfen und arbeiten“. Aber Dessaus Gesamtwerk war ambivalent: intern gefürchtet, nach außen gefeiert.

Despotismus und die Macht der Gewohnheit

Lanzelot - Oleksandr Pushniak (Drache), Kinder der schola cantorum weimar
Lanzelot – Oleksandr Pushniak (Drache), Kinder der schola cantorum weimar

Die Assoziationen zur DDR-Interpretation seiner Ideale waren zu stark: Der Drache sorgt seit Jahrtausenden in seiner Stadt für Ruhe und Ordnung, was er sich mit Jungfrauen bezahlen lässt. Ihre Eheversprechen verheißen den sicheren Fraßtod. Doch ist dieser Despotismus, der sich noch auf verschiedenste andere Weise äußert, nicht eindimensional als plumpe Kritik an imperialer Willkür im Sinne von Brechts epischem Theater zu lesen. Vielmehr stellt das dümmliche, allzu leicht korrumpier- und lenkbare Volk, das eigentlich nur seine Ruhe haben will und überhaupt nicht nach der Freiheit strebt, die Gegenspieler Lanzelot verheißt, die dankbaren Mitspieler vor, allen voran der opportunistische Bürgermeister als vornehmster Exeget eines gnadenlosen Zynismus. Auch des Drachen nächste Braut Elsa, natürliche eine Anspielung auf Wagner, erkennt zwar ihr Unglück, vermag der Macht der Gewohnheit aber kaum mehr als ein schrilles „Nein!“ entgegenzusetzen. Ihre Liebe zum Ritter Lanzelot, der zum Schluss des Heldentums müde wird, überwindet nicht wie im Märchen heroisch alle Ungerechtigkeit. Mag im Stück der Glaube der Autoren an wundersame Gegenkräfte angelegt sein – die Zweifel sind nur allzu offenkundig.

Konwitschnys Parallelen zur heutigen Welt in undogmatischen Andeutungen

Lanzelot - Juri Batukov (Charlesmagne), Uwe Stickert (Heinrich), Oleksandr Pushniak (Drache), Emily Hindrichs (Elsa) und Máté Solyom-Nagy (Lanzelot)
Lanzelot – Juri Batukov (Charlesmagne), Uwe Stickert (Heinrich), Oleksandr Pushniak (Drache), Emily Hindrichs (Elsa) und Máté Solyom-Nagy (Lanzelot)

Diese großartige Vorlage ist wie geschaffen für einen Denker wie Peter Konwitschny, der der 50 Jahre alten Oper wenig hinzusetzen muss. Die Parallelen zur heutigen Welt, in der sich wiederum die Frage nach dem Sinn der an Konsumwahn, Egoismus und Vereinsamung verschwendeten Freiheit stellt, ergeben sich ganz von selbst. Mit seinem seit Jahrzehnten erprobten kongenialen Bühnen- und Kostümbildner Helmut Brade skizziert der Regisseur in wenigen, undogmatischen Andeutungen ein vielschichtiges Bild der modernen Gesellschaft, das ohne Plattitüden aktuelle Aspekte des Wiedereinrichtens in denkfauler Bequemlichkeit aufgreift.

Die großen Opernhäuser könnten in Weimar viel, sehr viel lernen

Lanzelot - Wolfgang Schwaninger (Bürgermeister), Mitglieder der Opernchöre des DNT Weimar und des Theater Erfurt
Lanzelot – Wolfgang Schwaninger (Bürgermeister), Mitglieder der Opernchöre des DNT Weimar und des Theater Erfurt

In heiliger Einigkeit weiß er sich dabei mit dem 1. Weimarer Kapellmeister Dominik Beykirch, der die von Zitaten zwischen Humperdinck, Wagner, Tschaikowsky und Dessau selbst gespickte Partitur mit unaufdringlichem Kenntnisreichtum und schier unglaublicher Energie beisammenhält, nur zu bereitwillig fundiert von der beeindruckenden Weimarer Staatskapelle. Das Personal listet fast 30 Solisten, ein großes Orchester mit 13 Schlagwerkern, Solocello, Trio, Trautonium und eigenproduziertem Zuspiel auf, dazu wirken ein riesiger, stupend einstudierter Chor, eine üppige Kinder- und eine nicht minder aufwändige Komparsenschar. Nichts aber erscheint dabei zu groß oder gar redundant. Alles hat seinen Platz, und die künstlerische Qualität ist bedrückend hoch, so hoch, dass sich die selbsternannt großen Bühnen der Haupt- und Großstädte mit ihrem oftmals höchst konventionellen Repertoire geschlossen nach Weimar bewegen sollten: Sie könnten viel, sehr viel lernen. Fast schon müßig, die großartigen Paraden von Máté Sólyom-Nagy in der zurückhaltend angelegten Titelrolle, Oleksandr Pushniak als Drache und vor allem Wolfgang Schwaninger als Bürgermeister und letzthin selbsternannter Präsident zu erwähnen. Wirklich jeder Solist darf als herausragend gelten – ein absoluter Glücksgriff.

Lanzelot: Stets ausbalanciert an der Grenze zwischen Sarkasmus, Ernst, Witz und unmittelbarer Erschütterung

Lanzelot - Máté Solyom-Nagy (Lanzelot) und Matthias Bettighofer (Lanzelots Alter Ego)
Lanzelot – Máté Solyom-Nagy (Lanzelot) und Matthias Bettighofer (Lanzelots Alter Ego)

Damit wirkt diese begeisternde Produktion lange nach, auf dem Heimweg, zu Hause, in Diskussionen mit Freunden, bei der alltäglichen Zeitungslektüre. Schon das Stück selbst ist so überreich an Anspielungen, Denkansätzen und so hochaktuell wie kaum eine andere Oper unserer Zeit, dabei stets ausbalanciert an der Grenze zwischen Sarkasmus, Ernst, Witz und unmittelbarer Erschütterung. Die Umsetzung kann erst recht als Vorbild gelten: einerseits für das deutsche Kleinstadtkulturleben, das in Weimar – demnächst mit Bundesmillionen saniert – seinen Meister findet; andererseits aber auch für die Legitimation des leider recht unbekannten DDR-Musiktheaters, das noch immer, ob nun aus Unkenntnis oder Ignoranz, pauschal unter dem Generalverdacht der Staatstreue steht.

Der Thüringer „Lanzelot“ dagegen ist zeitlos, Kind einer nie gealterten Moderne, noch dazu absolut bühnentauglich und jedes großen Festivalexports würdig. Sollte schon allein das grandiose Libretto Heiner Müllers zur Schullektüre bestimmt werden, avanciert seine in jeder Hinsicht meisterhafte Vertonung zum Pflichtprogramm für jeden wachen und neugierigen Opernliebhaber im deutschsprachigen Raum. Auf nach Weimar!

Deutsches Nationaltheater Weimar
Dessau: Lanzelot

Dominik Beykirch (Leitung), Peter Konwitschny (Regie), Helmut Brade (Bühne & Kostüme), Igor Fürnberg (Video), Bettina Bartz, Arne Langer & Hans-Georg Wegner (Dramaturgie), Andreas Ketelhut & Jens Petereit, (Chöre), Emily Hindrichs (Weimar) / Christina Rümann (Erfurt) (Elsa), Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot), Oleksandr Pushniak (Drache), Juri Batukov (Charlesmagne), Wolfgang Schwaninger (Bürgermeister), Uwe Stickert (Heinrich), Daniela Gerstenmeyer (Kater), Andreas Koch (Medizinmann), Andreas Karasiak (Interpret / Sekretär / Lakai), Ylva Sofia Stenberg (1. Freundin), Heike Porstein (2. Freundin), Katja Bildt (3. Freundin), Jörn Eichler (1. Arbeiter), Uwe Schenker-Primus (2. Arbeiter), Gregor Loebel (3. Arbeiter),Jens Schmiedeke (Kunsthändler), Jörg Rathmann (Esel), Klaus Wegener (1. Berater), Alexander Günther (2. Berater), Oliver Luhn (3. Berater), Henry Helmli, (Militärexperte), Walter Farmer Hart (1. Bürger), Borislav Rashkov (2. Bürger),Dmitriy Ryabchikow, (3. Bürger), Mark Mönchgesang (1. Polizist), Jan Rouwen Hendriks / Heiko Mauchel (2. Polizist), Susann Günther (Bürgerin), Jong-Kwueol Lee, (Wagner-Siegfried), Kilian Bauer / Jasper Jakob Schönig (Kind)

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