Der Mensch als Abgrund – Christian Gerhaher als „Wozzeck“ an der Bayerischen Staatsoper

Bayerische Staatsoper/WOZZECK/Christian Gerhaher/ Foto © Wilfried Hösl

Aus dem ungeordneten Dramenfragment Georg Büchners, dem „Woyzeck“ – weder Reihenfolge der Szenen, noch die Vollständigkeit des Werkes ist überliefert – komponierte Alban Berg, indem er die wichtigsten Szenen gekürzt und neu zusammenstellt hat, seinen „Wozzeck“. Lebendig wird das Werk jedoch erst auf der Bühne: Die Bayerische Staatsoper zeigte mit Christian Gerhaher in der Titelrolle eine eindringliche Darstellung des Antihelden in musikalisch-szenischer Vollkommenheit. (Besuchte Vorstellung: Samstag, 23. November 2019) 

 

Ohne den Wortlaut des Dramas zu verändern oder den Autor jemals getroffen zu haben besticht diese Oper Alban Bergs durch ein Wort-Ton-Verhältnis entsprechend der Qualität der Werke von Mozart/Da Ponte oder Strauss/Hofmannsthal. Als eines der wenigen atonalen Kompositionen steht „Wozzeck“ als womöglich bedeutendstes Opernwerk im Mittelpunkt des Werkekanons des 20. Jahrhunderts. Auch elf Jahre nach ihrer Premiere besticht die Inszenierung von Andreas Kriegenburg dank handfester und verhaltender Personenführung mittels ihrer zeitlosen Aktualität. Durch eine Reduktion auf die persönliche Sichtweise von Wozzeck gelingt dem Regisseur eine ganz lineare Erzählweise der Handlung, wie sie der Protagonist wohl selbst zu erleben vermochte.

Die Bühne ist geteilt in das vordergründige Zuhause von Wozzeck und seiner unehelichen Familie – seiner geliebten Marie mit seinem in der Oper namenlosen Sohn – und in die abstrakt-grenzenlose und kühle, nasse Landschaft einer düsteren Natur. Den Wohnraum umschließend, allgegenwärtig und als dunkle Vorahnung auf den Schluss der Oper schließend, dient ein Teich. In diesem Wasser werden auch Wozzeck und Marie ihr eigenes, persönliches Ende im Mord und Ertrinken finden.

Bayerische Staatsoper/WOZZECK/Ensemble/ Foto © Wilfried Hösl

In karger Einrichtung, mit lediglich einzelnen Stühlen, wird die materielle Armut im Zuhause der brüchigen Familie bebildert. Der Regisseur zeigt neben dieser finanziellen Armut ebenso die geistige Armut und die daraus resultierenden menschlichen Abgründe der Gesellschaft um Wozzeck. Denn dieser ist sich wie keine andere Figur um seinen unverrückbaren Stand in der niederen Schicht bewusst, so dass er sich weder sprachlich, physisch noch intellektuell gegen die Angriffe seiner Mitmenschen zu wehren weiß. Warum sollte er auch kämpfen? Ändern ließe sich ja schließlich nichts an seiner Situation. „Er ist ein Phänomen, dieser Wozzeck“, stellt auch der Doktor fest, während er seinen Körper für grausame Versuche am Menschen missbraucht. Denn obgleich gänzlich ungebildet, formuliert der in beiger Uniform gekleidete Wozzeck in geradezu ehrlicher Gutgläubigkeit immer wieder Aphorismen, die aus der Tiefe seiner Natur stammen und seine Peiniger entgeistern lassen: „Man könnte Lust bekommen, sich aufzuhängen – Dann wüsste man, woran man ist!“ ist nur einer der Feststellungen, die die Figur Wozzeck als unberechenbar kennzeichnen.

Während all die bizarren Figuren vom Regisseur Andreas Kriegenburg überzeichnet ironisiert und geradezu ins Groteske gerückt sind – der Hauptmann im Fatsuit-Kostüm oder der Doktor in Frankenstein-ähnlichem Aufzug überzeichneter Künstlichkeit – bleibt Wozzeck stets er selbst: Authentisch, arm, einsam und verlassen von der Welt, in welcher er weder in einer Religion, noch in seiner Familie und erst recht nicht in der Gesellschaft Rückhalt findet kann. Seine Peiniger dringen dabei zunehmend in die Privatsphäre Wozzecks ein, denn sein eigenes Zuhause, womöglich unter Beisein seiner Angehörigen im Nebenzimmer, ist Schauplatz für die Versuche. Wie bei einer Exekution – durch Kreuzigung oder auf dem elektrischen Stuhl – muss Wozzeck aus Liebe zur Familie, denn er braucht ja das Geld, die Qualen am eigenen Leib über sich ergehen lassen.

In Kriegenburgs Inszenierung nimmt schließlich auch das Kind Wozzecks eine besondere Rolle ein, indem es – durch einen stummen Kinderschauspieler verkörpert – in nähesuchender und anhänglicher Art seinen Vater nur noch weiter unter Druck setzt. Wozzecks Ohnmacht, Gefühle für seinen Sohn zu zeigen, oder ihn einfach nur zu umarmen, erscheint geradezu schauderhaft tragisch.

Bayerische Staatsoper/WOZZECK/Christian Gerhaher,Gun-Brit Barkmin / Foto © Wilfried Hösl

Hartmut Haenchen dirigierte das Bayerische Staatsorchester präzise und scharf akzentuiert. Sein ausgeprägter technischer Fokus auf das Werk fügte sich eindrücklich in das emotionslose-karge und abgeklärte Bühnenbild von Harald B. Thor. Im Mittelpunkt der Wiederaufnahme standen herausragende Sängerdarsteller, allen voran Christian Gerhaher in der Titelrolle. Wie kein anderer Sänger oblag es ihm, durch geschickte und präzise Betonung jeder Silbe die Partie des Wozzecks gänzlich wie ein Schauspieler zu verkörpern, gleichsam jedoch mit seiner vibratoarmen, kontrollierten Stimme den Charakter unübertrefflich in den Wahnsinn steigern zu lassen. Eine der Paraderollen von Gun-Brit Barkmin ist die Figur der Marie, da sie den diffizilen Sprechgesang mit voluminöser Stimme frei gestalteten konnte, jedoch gleichsam die leidenschaftlich und vorsorglich Mutter blieb. Als einer der bedeutendsten Charaktertenöre der Gegenwart gelang es Wolfgang Ablinger-Sperrhacke einen sonderbar skurrilen und geradezu extravaganten Hauptmann zu verkörpern, der trotz seiner autoritären und gehobenen Stellung in der Gesellschaft doch dem Wozzeck mental unterlegen schien.

Wasser, jenes Element, welches sich immer im Fluss befindet und in seiner Bewegung symbolisch die fehlende Stabilität und die Auflösung fester Strukturen im Leben des Wozzeck versinnbildlicht, flutet die Bühne fortwährend in dieser Inszenierung. In dem Schlussbild werden Wozzeck und Marie darin gänzlich verschwunden sein. „Komm, anschauen! Draußen liegt sie, am Weg, neben dem Teich“, entgegnen die Kinder. Sie sind schon in jungen Jahren dem Voyeurismus verfallen und bar jeden Mitgefühls gegenüber ihrem Freund, der soeben Mutter und Vater verloren hat. Die Inszenierung verdeutlicht, dass dieses einsame Kind den Zyklus der Ausgrenzung, zunächst als uneheliches Kind und nun als Vollwaise, fortsetzen muss. Abgesondert am Rande der Gesellschaft wird dieser Bub, unterdrückt von seinen Zeitgenossen, unverschuldet zu einem neuen Wozzeck heranwachsen.

 

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