Saisoneröffnung an der Scala: Anna Netrebko singt Tosca als unschuldige Mörderin

Bei der Inaugurazione am Teatro alla Scala besinnt sich Italien auf seine Kulturtradition. Riccardo Chailly rekonstruiert, passend dazu, Puccinis Ur-«Tosca» von 1900 in Starbesetzung. Nur echtes Musiktheater ist das Spektakel wieder einmal nicht.

Christian Wildhagen, Mailand
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Anders als einst Maria Callas wird sie das Messer auf dem Tisch wieder zurücklegen und erst in Notwehr erneut danach greifen: Anna Netrebko in einer Schlüsselszene des zweiten Aktes von Puccinis «Tosca» an der Scala.

Anders als einst Maria Callas wird sie das Messer auf dem Tisch wieder zurücklegen und erst in Notwehr erneut danach greifen: Anna Netrebko in einer Schlüsselszene des zweiten Aktes von Puccinis «Tosca» an der Scala.

Brescia+ Amisano / Teatro alla Scala

Vor dem Duomo steht der Weihnachtsbaum der Zukunft. Natürlich gibt es an dem turmhoch aufragenden Kegel keinen einzigen echten Ast, geschweige denn frische, nach Harz duftende Nadeln. Stattdessen blinken Tausende von garantiert klimaneutral produzierten LED-Ketten munter um die Wette. Ganze Filmsequenzen lassen sich mit deren Hilfe ruckelfrei projizieren, da schwappen Wellenberge in die Höhe, lodern Flammen, und nicht selten funkeln die Sterne – bevorzugt in Rot und Weiss und manchmal auch in Grün, den Farben der Metropole und des geeinten Italien.

Es ist Ambrosiustag in der Hauptstadt der Lombardei, Mailand feiert an diesem 7. Dezember traditionell seinen Schutzpatron – mit viel Trubel, Konsumrausch und allerlei Krawall. Nebenbei erinnert es sich auch daran, dass es zusammen mit Wien immer noch die Opernhauptstadt der Welt ist. Wenigstens an diesem festlichen Abend, wenn die alljährliche «serata inaugurale» den Beginn einer neuen Spielzeit am Teatro alla Scala einläutet, und das schon im 241. Jahr. Deshalb setzt sich der Farbenschmuck im Inneren der Scala fort; vor allem die Herrscherloge, wo einst Könige und der Duce und noch so mancher andere Finsterling Platz genommen haben, ist ein rot-weiss-grünes Blumenmeer.

Oper in der Oper: Das Publikum in der Mailänder Scala bereitete dem Staatspräsidenten Sergio Mattarella vor dem Beginn der «serata inaugurale» eine fünfminütige Ovation.

Oper in der Oper: Das Publikum in der Mailänder Scala bereitete dem Staatspräsidenten Sergio Mattarella vor dem Beginn der «serata inaugurale» eine fünfminütige Ovation.

EPA / La Scala

Inmitten der Blumen taucht unversehens eine weisshaarige Lichtgestalt auf, winkt freundlich, aber würdevoll in die Runde, und der ganze Saal gerät aus dem Häuschen. Es ist der Presidente della Repubblica, Italiens Staatsoberhaupt Sergio Mattarella, den das Publikum mit einer gut fünf Minuten andauernden Ovation ehrt und feiert, als gelte es, dem letzten integren Aufrechten dieses politisch zerrissenen Landes den Rücken zu stärken. «Das ist halt Mailand, aber schaut bloss nicht in die Provinz», sagt ein Besucher im Designer-Smoking laut in den endlich dann doch wieder abebbenden Applaus, macht eine dieser vielsagenden südländischen Handbewegungen und stimmt mit hellem Tenor in die Hymne ein, die jede Inaugurazione eröffnet: «Fratelli d’Italia, l’Italia s’è desta . . .»

Rekonstruktion der Ur-«Tosca»

So viel grosse Oper vor der Oper erlebt man selbst hier nicht alle Tage. Aber Italien scheint tatsächlich ganz allmählich aus der verstockten Verbissenheit zu erwachen, die sich während der anderthalb Salvini-Jahre bereits bleischwer auf das Land gelegt hatte. Als hätte einer den Schalter umgelegt, will man plötzlich wieder die stolze Kulturnation sein, die der Welt so unendlich viel mehr geschenkt hat als eine zynische und menschenverachtende Flüchtlingspolitik. Zu dieser Selbstbesinnung passt, nicht zuletzt, dass sich auch die Scala für ihre Saisoneröffnung auf ein Herzstück des italienischen Opernrepertoires verlegt hatte. Giacomo Puccinis «Tosca» hört man hierzulande zwar auf jeder grossen und vielen kleineren Bühnen (sofern Letztere noch nicht dem Rotstift zum Opfer gefallen sind); gewiss aber nicht so wie an diesem Abend in der Scala.

Musikdirektor Riccardo Chailly hat schon bei anderen Hauptwerken Puccinis wie «Madama Butterfly» und «Manon Lescaut» zu Recht auf einen ziemlich skandalösen Umstand aufmerksam gemacht: dass nämlich die Opernwelt seit hundert Jahren einen philologisch vollkommen unreflektierten Umgang mit diesen unverwüstlichen Zugstücken pflegt. Einige der meistgespielten Opern überhaupt liegen weder in kritischen Editionen vor, noch gibt es – bedingt durch Puccinis fortwährende Revisionen in späteren Jahren – Fassungen letzter Hand. Chailly macht nun aus der Not eine Tugend und präsentiert gewissermassen jene Ur-«Tosca», wie sie zuletzt vor 120 Jahren bei der Uraufführung in Rom im Januar 1900 erklungen sein dürfte.

Das letzte Licht der Hoffnung? Anna Netrebko als Tosca in Mailand.

Das letzte Licht der Hoffnung? Anna Netrebko als Tosca in Mailand.

Teatro Alla Scala

Die Unterschiede sind hörbar. Und an zumindest drei Stellen heben sie Kenner des Werks glatt aus den überweichen Scala-Sitzen. Die erste ist ein magischer Einschub im Duett zwischen Tosca und ihrem Geliebten Cavaradossi: «Non è arte, è amore, è amore . . .», versichert der Maler der Sängerin, und man bedauert, dass dieser Verweis auf die das gesamte Stück prägende Spannung zwischen Kunst und Leben gestrichen wurde. Noch frappierender ist ein kurzer Nachsatz zu Toscas berühmter Arie «Vissi d’arte», die Puccini zeitweise sogar gänzlich eliminieren wollte. Brutal schreckt Scarpia die lüstern begehrte Diva aus ihrer Selbstreflexion auf, kalt fordert er ihre Hingabe als Preis für das Leben des Geliebten – hier könnte es sofort weitergehen mit der Seelenfolter; doch leider gibt Chailly dem üblichen Zwischenapplaus Raum.

Ultima Ratio

Am ohrenfälligsten wirkt indes die Revision des Opernschlusses. Zwar zitiert Puccini schon hier das Thema aus Cavaradossis «E lucevan le stelle»-Arie, aber die Passage ist bedeutend länger und obendrein kühner harmonisiert. Zudem erhält Tosca einen zusätzlichen Ausbruch, dessen Text («povera Floria tua») wehleidig wirken könnte, wenn – ja, wenn Anna Netrebko, die erwartungsgemäss umjubelte Tosca des Abends, nicht just darin noch einmal ihre ganze vokale und dramatische Kraft bündeln würde. Schon am Ende des zweiten Akts gelingt ihr ein ähnlich starker Moment, wenn sie gerade durch die bei ihr ungewohnte stimmliche und gestische Verinnerlichung die psychische Ausnahmesituation Toscas greifbar macht: als Tragödie einer Unschuldigen, die erst als Ultima Ratio zum Messer greift.

Erst hier wandelt sich die Aufführung zum echten Drama. Davor inszeniert David Livermore mit Versatzstücken der Originalschauplätze gekonntes Kulissenschaulaufen, schön anzusehen, aber ohne wirklichen psychologischen Tiefgang. Das ist leider Usus an der Scala, stört in dem Fall aber nicht weiter, weil das Haus mit Francesco Meli (Cavaradossi) und Luca Salsi (Scarpia) denkbar hochkarätige Partner für die Netrebko engagiert hat. Die drei spielen ihr eigenes Dreiecksspiel, lassen sich mit kraftvollem, aber aussergewöhnlich differenziertem Stimmeinsatz vom dramatischen Zug der Musik tragen. Chailly entfacht diesen Erzählstrom mit viel Sinn für die instrumentatorischen Feinheiten und eher breitem sinfonischem Atem. Packendes Musiktheater entsteht daraus, ungeachtet des hohen Energie-Levels und der überragenden Einzelleistungen, dennoch nicht – eher grosse Oper. Aber auch die hat in diesem Land, in diesem Haus bekanntlich ein festes Zuhause.

«Là! Muori! Ecco un artista!»: Toscas Geliebter Cavaradossi (Francesco Meli, links) wird bühnenwirksam erschossen – allerdings nicht bloss zum Schein, wie die Diva (Anna Netrebko, rechts) hier noch glaubt.

«Là! Muori! Ecco un artista!»: Toscas Geliebter Cavaradossi (Francesco Meli, links) wird bühnenwirksam erschossen – allerdings nicht bloss zum Schein, wie die Diva (Anna Netrebko, rechts) hier noch glaubt.

Teatro Alla Scala