Diese Naturphänomene klingen auch im Jahr 2019 vertraut: ausgetrocknete Landschaften, verdorrte Bäume im Wald, mittendrin die versiegte Quelle eines Flusses. Was uns den Klima-Schweiß bei der Diskussion auf die Stirn treibt, war zu Zeiten des venezianischen Barockopern-Komponisten Francesco Cavalli zumindest nicht unbekannt. In einem mythologischen Krieg hatten die Menschen gegen die Götter verloren, wurden mit Dürre und fehlendem Wasser bestraft. Im Unterschied zum heutigen Lösungsbemühen konnte man damals auf das ordnende Eingreifen des Göttervaters rechnen: Jupiter kommt mit seinem Begleiter Merkur auf die Erde, um für neues Grün und sprudelndes Nass zu sorgen.

Und da er sich bei dieser Dienstreise unbeobachtet von seiner Gattin Juno wähnt, möchte er beim Thema Befruchtung noch etwas tiefer bohren. Merkur arrangiert ein Treffen mit den Nymphen um die Jagdgöttin Diana, Jupiter verliebt sich in Calisto. Wie ihre Herrin haben die Nymphen eigentlich nichts für Männer übrig, und Calisto schwärmt für Diana und weist ihn stolz ab. Als Jupiter sich dann als Diana verkleidet ins Liebesspiel bringt, durchschaut Calisto die verwirrende Verwechslung nicht und gibt sich scheinbar ihr, dabei doch ihm hin. Travestie und komödienhafte Täuschungsmanöver bringen in den Beziehungskisten von Halbgöttern und Menschen einiges in Unordnung, Calisto wird aus dem strengen Zirkel um Diana ausgestoßen. Da Juno letztlich doch ihren Göttergatten im Auge behält, lässt sie die süße Nymphe durch die Furien der Hölle in eine tapsig unförmige Bärin verwandeln. Jupiters Macht reicht nicht aus, Calisto wieder zurückzuholen; es bleibt ihm nur noch, ihre Liebe wenigstens im Sternbild des Großen Bären fortdauernden Ruhm genießen zu lassen.

Francesco Cavalli wusste sein anspruchsvolles venezianisches Opernpublikum gerade mit antiken Stoffen gut zu unterhalten; von seinen 40 Opern sind mehr als die Hälfte erhalten. Sein Librettist Giovanni Faustini lieferte 1651 das Textbuch zu La Calisto nach den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid, der die Entstehung und Geschichte der Welt in den Begriffen der römischen und griechischen Mythologie darstellte. Am Nürnberger Staatstheater nutzt Jens-Daniel Herzog die vielen Anspielungen Ovids wie eine Steilvorlage, die Handlung in ein modernes Umfeld zu pflanzen: die Nymphen werden zu Schülerinnen eines imaginären Internats, das Mathis Neidhardt geschickt als blassgrünes Klassenzimmer oder Turnhalle ebenso wie Pans schrille Mopedwerkstatt möblieren kann. Ein Dutzend Mädchen sitzt in ihren Schuluniformen (Kostüme: Sibylle Gädeke) wie wissbegierige Gretas brav im Klassenzimmer, malen Windräder und Strömungsgleichungen ebenso wie grüne Thesen an die große Wandtafel: „Stop alla plastica“. Sie üben in der Turnhalle gekonnt Karate zur Selbstverteidigung, bauen ihre Betten im dämmrigen Schlafsaal auf. Engagiert zeigt Calisto im Dia-Referat vertrocknete Äcker, tote Vögel an wasserlosen Flüssen, beklagt dass ihr „die Füße verbrennen“. Diana ist die gestrenge Schulleiterin, fordert Disziplin ebenso wie die Vorzimmer-Sekretärin Ninfea Bonuspunkte für gelungene Kampftechnik ins Klassenbuch einträgt. Als feinen Schulrat empfängt sie Jupiter, lässt ihn über sonnige Strandfotos und himmelblaue Ferienerholung dozieren. Mit lärmenden Motoren und qualmendem Auspuff knattern Pan und ein Satyr über die Bühne. Das schafft schnell Neugier, amüsiert das Publikum, regt zum Schmunzeln und Lachen an.

Da Cavallis Opern nur als Generalbass-Gerüst überliefert sind, könnte La Calisto auch als klein dimensioniertes Kammerspiel aufgeführt werden. Wolfgang Katschner, Leiter der Berliner Lautten Compagney und im Nürnberger Staatstheater bereits mit seinen Instrumentierungen bei Händels Xerxes und Monteverdis Odysseus erfolgreich, hatte nun auch Cavalli ein schmuckes orchestrales Gewand verliehen: Stücke von Rossi, Merula und anderen wurden eingebaut. Wie im Original trugen neben den Streichern noch Zinken, Harfe, Chitarrone, Lirone und Barockposaunen vollendet zum typischen Mischklang bei. Mit vielfarbigem Sound begeisterten die Musiker durch natürlich fließende Phrasierung in der warm getönten Klangkulisse des erhöht positionierten Orchestergrabens.

Sorgten im ersten Teil schnelle Szenenwechsel für Spannung, richtete Herzog den Fokus im zweiten Teil mehr auf das intensive Beziehungsspiel von Göttern und Menschen. Dem Jupiter konnte Jochen Kupfer wie gewohnt durch harmonische Bassfülle und klangliche Differenzierung machtvolle Erscheinung geben; in seinem zweiten Ich als Diana entdeckten die begeisterten Zuhörer – und vielleicht auch er! – überraschende Begabung im komödiantischen Slapstick und eine verführerische Kopfstimme, der Calisto folgerichtig nicht widerstehen kann. Julia Grüter bestach mit bezaubernder Mixtur aus jugendlicher wie fraulicher Ausstrahlung, mit lyrischer Wärme, zu hochdramatischen Ausbrüchen und flexiblen Verzierungsfiguren fähig.

Das zweite Liebespaar will eigentlich unentdeckt bleiben: Göttin Diana und Endymion, Hirt und Raumpfleger, empfinden mehr füreinander als sie zugeben dürfen. Ein herrliches Verwirrspiel zwischen der scheinbar Keuschen und dem Gutmütigen. Almerija Delic und David DQ Lee fanden trotzdem den (fast) unbeobachteten Moment füreinander, prägten mit intensivem Spiel, nachdenklichem Ausdruck und tiefer Emotion die verwickelte Situation. Virtuos auf Highheels: Martin Platz im wunderbar ausstrahlendem hohen Tenor-Register, faszinierte als ältliche Schreibstuben-Jungfer ebenso wie in lüsterner Suche nach dem richtigen Mann. Herrische Juno und verschlagener Merkur: Emily Bradley und John Carpenter imponierten in der Götterfamilie. Irina Maltseva, John Pumphrey und Wonyong Kang gestalteten hinreißend drastische Charaktere der Fabelfiguren Satyr, Pan und Silvanus. Keine historisierende Geschichtsstunden also: mit diesem Bühnenspektakel haben die Nürnberger alles richtig gemacht!


Anmerkung der Redaktion: Es wurde ursprünglich erwähnt, dass Julia Grüter die Rolle der Maria in West Side Story Gesungen hatte. Diese wurde jedoch von der Sopranistin Andromahi Raptis übernommen.

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