Barockes Opernspektakel in Genf: Lasst die Friedenspfeife kreisen!

Am Grand Théâtre stossen der Dirigent Leonardo García Alarcón und die Regisseurin Lydia Steier zum Kern von Jean-Philippe Rameaus «Les Indes galantes» vor. Das polarisiert auf der Bühne genauso wie im Publikum.

Christian Wildhagen, Genf 5 min
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Sie preisen das Leben und die Schönheit: Hébé (Kristina Mkhitaryan) und ihre Jüngerinnen und Jünger (Ballet du Grand Théâtre).

Sie preisen das Leben und die Schönheit: Hébé (Kristina Mkhitaryan) und ihre Jüngerinnen und Jünger (Ballet du Grand Théâtre).

Magali Dougados / GTG

Achtung, im Verlauf der Aufführung kann es zu Blitzen und Explosionen kommen. Die Bühneneffekte können die Sinne betäuben, seelische Erschütterung hervorrufen und das vorweihnachtliche Gleichgewicht stören. Auch wird darauf hingewiesen, dass das Gezeigte nur partiell den Erfordernissen politischer Korrektheit Genüge tut. So oder ähnlich hätte das Grand Théâtre de Genève vor seiner jüngsten Neuproduktion warnen können – und vielleicht auch warnen sollen. Deren zweite Aufführung am Nachmittag des dritten Adventssonntags verstörte jedenfalls etliche Opernfreunde derart, dass sie in der Pause das Weite suchten. Was war geschehen?

Nüchtern betrachtet: nichts, was zum Skandalon taugte. Vielmehr hatte Aviel Cahn, der neue Genfer Intendant, ein Versprechen eingelöst und mit der amerikanischen Regisseurin Lydia Steier eine profilierte junge Vertreterin des zeitgenössischen Musiktheaters ins renovierte Haus an der Place de Neuve geholt. Steier hat seit ihrer preisgekrönten Produktion von Stockhausens «Donnerstag aus ‹Licht›», 2016 am Theater Basel, wiederholt bewiesen, dass sie Opern nicht bloss bebildern, sondern deren Handlungen kühn dekonstruieren kann, ohne den narrativen Kern zu zerstören. Nach ihrer eher gemässigten «Zauberflöte» bei den Salzburger Festspielen 2018/19 geht sie nun in Genf bei Rameaus «Les Indes galantes» einen Schritt weiter.

Zumutungen, Fallstricke

Diese «Opéra-ballet» von 1735 ist ein echtes Ungetüm aus dem Repertoirefundus einer untergegangenen Epoche. Dementsprechend steht sie quer zu fast allen Gepflogenheiten und ungeschriebenen Gesetzen des heutigen Opernbetriebs. Schon das Ansinnen, die hauseigene Tanzkompanie – sofern (noch) vorhanden – für eine Opernaufführung heranzuziehen, triebe manchem Ballettdirektor die Empörungsröte ins Gesicht. Tänzer als hübsche Staffage für ein barockes Spektakel? Quel culot! Niemals!

Zudem ist das gut dreistündige Opernwerk – ungeachtet einer erhaltenen Bearbeitung durch Paul Dukas – heute vorzugsweise im Originalklang-Gewand zu Gehör zu bringen, was wiederum Spezialisten am Pult und im Graben erfordert.

Vor allem aber benötigt man einen furchtlosen Deuter, der die inhaltlichen Zumutungen des Stückes anpackt: Verbirgt sich doch hinter der harmlos klingenden Bezeichnung «Indes» ein Sammelbegriff für alles, was man seinerzeit, im Reich von Louis Quinze, als «exotisch» empfand – ferne Kulturen, fremde Religionen, Muselmanen, Inkas, Indianer. Und das alles betrachtet mit dem wohligen Grusel des ach so friedliebenden Europäers, der sich gern in seiner aufklärerischen Überlegenheit bestätigt sehen wollte.

Bellone (Renato Dolcini) zwingt Hébé und ihre Jünger zum Theaterspielen.

Bellone (Renato Dolcini) zwingt Hébé und ihre Jünger zum Theaterspielen.

Magali Dougados / GTG

Bei der Ballett-Problematik hatte Cahn mit seinem neuen Ballettchef Demis Volpi offenkundig leichtes Spiel und eine glückliche Hand: Volpis gemischt klassische und moderne Choreografien sind zu keiner Zeit Staffage, sie schaffen eine eigene Welt und zielen doch vom ersten Augenblick an auf eine szenisch geschickte Durchmischung der Tänzergruppe mit den übrigen Ensembles von Solisten, Chor und Statisterie. Umso eindringlicher wirkt ein bewusst vor dem Musenhimmel des Grand Foyers isolierter Pas de deux im neoklassizistischen Stil am Beginn des dritten Akts, «Les Fleurs – Fête asiatique» betitelt.

Auch die Orchesterfrage löst man in Genf geradezu ideal: Mit Leonardo García Alarcón und der von ihm 2005 gegründeten Cappella Mediterranea greift Cahn auf eine gerade im italienischen und französischen Barockopernbereich versierte Originalklang-Formation zurück, die bereits unter seinem Vorgänger Tobias Richter in Genf reüssiert hat, unter anderem durch ihre feurige Mitwirkung an Purcells «King Arthur» im Mai 2018. Wie aber würde Lydia Steier die Fallstricke des Librettos von Louis Fuzelier umgehen?

Kunst und Krieg

Steier setzt klug bei der Rahmenhandlung an, in der wieder einmal zwei gelangweilte Gottheiten um das Wohl der Menschheit hadern. Das lustige Spiel der Jugendgöttin Hébé (Kristina Mkhitaryan mit charakteristisch scharfem, aber fein fokussiertem Sopran) und des Kriegstreibers Bellone (der auch szenisch sehr präsente Bartoli-Schüler Renato Dolcini) läuft allerdings fürchterlich aus dem Ruder.

Dabei hatte alles so schön angefangen: In einem verlassenen Theater – eines dieser atmosphärischen Bühnenbilder von Heike Scheele, die durch die Zusammenarbeit mit Stefan Herheim bekannt geworden ist – vergnügen sich die Jüngerinnen und Jünger der Hébé in dionysischen Bäumchen-wechsle-dich-Tänzen. Ja, denkt man noch, so schuldlos-sündig mag es zugehen im Paradies, zumal wenn der Hofcompositeur Rameau heisst und sein himmlischer Kapellmeister Alarcón.

Doch wumms! Da stürmt Bellone, Handgranaten werfend, mit seiner schwarz uniformierten, stahlhelmbewehrten Kriegertruppe das Theater, und aus ist’s mit Liebe und Schönheit. Denn Bellone macht sofort in brutalster Weise klar, dass ihm jeder Sinn für die Segnungen des Locus amoenus am Maschinengewehr vorbeigeht. Da werden Menschen geprügelt, gedemütigt, gefoltert, dass es beim Zusehen wehtut. Steier aber hat uns schlagartig dort, wo jeder Regisseur sein Publikum haben will: mittendrin, anteilnehmend, mitleidend, hassend – in jedem Fall aufs Leidenschaftlichste polarisiert.

Alles nur Theater – aber was für eins: Das atmosphärische Bühnenbild zu «Les Indes galantes» in Genf stammt von Stefan Herheims ehemaliger Bühnenbildnerin Heike Scheele.

Alles nur Theater – aber was für eins: Das atmosphärische Bühnenbild zu «Les Indes galantes» in Genf stammt von Stefan Herheims ehemaliger Bühnenbildnerin Heike Scheele.

Magali Dougados / GTG

Das ist ein Wechselbad, fast eine Rosskur, und natürlich kann die Aufführung diese emotionale Höchstspannung nicht über drei Stunden lang durchhalten. Aber sie versucht es zumindest, indem sie die folgenden vier Akte, bei Rameau «Entrées» genannt, als episodenhaftes Lager- oder Ghetto-Theater zeigt. Darin spielen die unbarmherzig in Geiselhaft genommenen Jünger von Kunst, Liebe und Schönheit buchstäblich um ihr Leben wie einst die mutige Scheherazade in «Tausendundeiner Nacht».

Die Mittel sind schlicht, eine vergessene Kiste mit Requisiten zu Mozarts «Entführung aus dem Serail» (deren Handlung dem ersten Entrée bei Rameau gleicht) liefert ein paar einschlägige Kostüme. Das ist Hinterhof- und Thespiskarren-Theater, abwechselnd heiter, anrührend, albern, banal. Fuzeliers barocke Imaginationen von fremden Ländern und Menschen aber kommen auf diese Weise exakt so naiv zur Geltung, wie sie immer schon gedacht waren.

Friedensgebet

Gleichwohl tun sie Wirkung: Als sich der Krieg gegen Bellone selber wendet und ihn zwingt, mit seinen dezimierten Mannen Zuflucht im belagerten Theater zu nehmen, kommt es zur Versöhnung – ironischerweise ganz im Sinne jener imaginierten «Wilden», der Indianer aus dem heutigen Louisiana oder Texas im vierten Entrée, die es mit ihrer Friedenspfeife irgendwie immer schon besser wussten als die angeblich so zivilisierten Europäer.

Da ist Steier unversehens ganz nah dran am Kern, an jener Dialektik der Aufklärung, die Rameau und Fuzelier unwissentlich vorwegnahmen. Steier und Alarcón finden dafür einen stimmigen Ausdruck: Sie stellen die berühmteste Nummer der Oper, den Ohrwurm «Les sauvages», wie ein Vaudeville ganz ans Ende der Aufführung und verlangsamen die Musik zum still verklingenden Gebet um Frieden.

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Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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