Knappe 80 Jahre ist es her, seit die Königskinder aus der Feder von Engelbert Humperdinck an der Oper Graz zu sehen und hören waren. Musikalisch überzeugte der Abend beinahe restlos, nur leider trug die Inszenierung von Frank Hilbrich nicht unbedingt dazu bei, die Rückkehr zu einem vollen Triumph werden zu lassen.

Die Idee des Regisseurs bleibt die gesamten drei Stunden lang völlig unklar, die Produktion stagniert im Grenzgebiet zwischen idyllischer Bebilderung und leiser Gesellschaftskritik. Diese Unentschlossenheit ist insbesondere schade, weil der Stoff doch so viel mehr böte: Die grausame (Un-)Menschlichkeit einer gesättigten Gesellschaft, der Wunsch nach einer Führerfigur, die Erkenntnis, dass die Reinheit des Herzens wichtiger ist, als die Abstammung bzw. der Stand und das zutiefst pessimistische Ende, das keine Hoffnung für die Menschheit mehr sieht. All diese Themen werden jedoch höchstens gestreift, die Personenführung beschränkt sich auf Klischeegesten wie bedeutungsvolles gegen die Wand schlagen und verzweifeltes Händeringen. Was die Figuren antreibt und welchen Bezug diese Archetypen zu unserer Gesellschaft haben – all das führt Hilbrich zwar im Programmheft wortreich aus, in seiner Inszenierung ist davon nichts zu sehen. Ein weiteres Problem ist das Bühnenbild, das zwar sehr sängerfreundlich ist, da es aus einem weißen Kubus besteht, in dem die Stimmen nicht untergehen, aber dem Publikum im Parkett oft die Sicht auf das Geschehen nimmt, da sich viel in Vertiefungen im Bühnenboden abspielt. Schloss man aber die Augen, tat sich eine weitaus märchenhaftere Welt vor den Ohren auf...

Marius Burkert packte am Pult der Grazer Philharmoniker kräftig zu und peitschte das Orchester zu üppigen Klangwelten auf. Puristen werden zweifelsohne die häufigen Fortissimi der dynamischen Gestaltung und mangelnde Liebe zu Details beklagen, aber für meinen Geschmack bestach diese Interpretation gerade durch ihre Wucht auf ganzer Linie; denn so wurde der Gegensatz zwischen reiner, kindlicher Welt und unmenschlicher Gesellschaft besonders deutlich. Eine Herkulesaufgabe ist Humperdincks Partitur für die Blechbläser, insbesondere die Hörner meisterten diese sehr gut und entführten in märchenhafte Abgründe. Berückend schön gelang dem Orchester das Vorspiel zum dritten Akt, in dem zarte Klänge auf tieftraurigen Pessimismus trafen.

Die rundeste Leistung des Abends gelang Polina Pastirchak als Gänsemagd. Wie sie sich gleich im ersten Akt jugendlich und unbekümmert in einem Blättermeer wälzte und die Stimme dabei mühelos in lichte Höhen strömen ließ, entführte sofort in die reine Welt dieses Königskindes. Ihren schimmernd timbrierten Sopran setzte sie dabei mal keck, mal sanft und dann wieder mit beachtlichem Nachdruck ein und schuf einen facettenreichen Charakter. An ihrer Seite blieb der Königssohn von Maximilian Schmitt zwar etwas farblos in der Darstellung, allerdings überzeugt er mit seinem interessant timbrierten und elegant geführten Tenor, der sowohl in den lyrischen als auch in den dramatischeren Passagen strahlte. Als Spielmann hätte Markus Butter mit seinem Schlussgesang eine Steilvorlage für einen ergreifenden Moment gehabt, die er allerdings nur bedingt nutzte. Denn im Lauf des Abends taute die Stimme nie so richtig auf und geriet nicht ins Fließen, sondern wirkte spröde und ging zeitweise gar im Orchester unter. Dafür wirft sich Butter schauspielerisch mit vollem Einsatz in die Partie und schafft inmitten der kalten Gesellschaft einen menschlichen Pol.

Als Hexe blieb Christina Baader in der Darstellung unauffällig, die Ambivalenz der Figur, bei der nicht klar ist, ob sie die Gänsemagd einsperren oder beschützen möchte, ging beinahe unter. Eine Hexe muss nicht zwangsläufig mit Klangschönheit bestechen, aber Baaders hart klingendem Mezzosopran, der in der Höhe schrill wurde, hätte etwas mehr Geschmeidigkeit wahrlich nicht geschadet. Die Bevölkerung von Hellastadt wurde aus dem Ensemble durchwegs gut besetzt, vokal konnten vor allem Wilfried Zelinka, Anna Brull und Mareike Jankowski auf sich aufmerksam machen, während sie von der Regie auf schablonenhaftes Agieren reduziert wurden.

Das Kind, das sofort erkennt, dass es sich bei der Gänsemagd und dem vermeintlichen Schweinehirten um das Königspaar handelt, wurde von Victoria Legat selbstbewusst gespielt und gesungen; überhaupt legte der Kinderchor der Grazer Oper unter der Leitung von Andrea Fournier einen bezaubernden Auftritt hin. Klangschön, in Timing und Ausdruck ideal abgestimmt und spielfreudig in die Inszenierung eingebunden: Bravi! Dieser Eindruck setzte sich auch bei den Damen und Herren des Chors fort, die ohnehin immer eine sichere Bank sind. Und selbst wenn nicht alles an diesem Abend perfekt war, ist alleine die Tatsache, dass die Oper Graz kontinuierlich auf Raritäten und Vergessenes setzt, ein großes Argument für diese Produktion; diese (Wieder-)Begegnung lohnt sich!

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