Der verzweifelte Wunsch nach einem Anführer, der das Volk eint und leiten kann, findet sich seit Menschengedenken in vielen Gesellschaften wieder und so greift auch Regisseur Árpád Schilling dieses zeitgemäße Sujet in seiner Inszenierung an der Oper Stuttgart auf und macht es zum Auslöser für das sich tragisch entfaltende Geschehen um den Gralsritter Lohengrin. Alle Hoffnung wird in eine Person, in einen Retter, gelegt, doch statt auf ihn zu warten, erwählen sie kurzerhand einen aus ihren eigenen Reihen. Statt aus fernem Land vom Schwan gezogen steht er bereits mitten unter ihnen. Er ist einer von ihnen, doch die Erwartungen an ihn sind immens.

Lohengrin soll nicht nur die Fehde zwischen Elsa und Telramund lösen, sondern wird auch gleich zur Symbolfigur der Erlösung des ganzen Volks erhoben. Sie zögern nicht, ihm zu folgen und hängen hoffnungs- und erwartungsvoll an seinen Lippen. Lohengrin selbst wird aus der Obskurität der grauen Masse gezwungen und ins Rampenlicht gestoßen. Irritiert und sichtlich unwohl muss er nun an seinen Aufgaben wachsen. Seine Unbedarftheit und Naivität scheinen ihm dabei förmlich auf die Stirn geschrieben.

In der Titelrolle überzeugte Daniel Behle, der erst kürzlich als Lohengrin debütierte, und beeindruckte mit einer vielschichtigen und Mitgefühl heischenden Darstellung seiner Figur. Mit subtiler aber dennoch eindringlicher Mimik und Gestik gestaltete er einen Antihelden, der wider Willen zum Heilsbringer erhoben wird und an der hohen Erwartungshaltung unweigerlich scheitern muss. Anfänglich unbeholfen und naiv, schließlich aber von der Liebe zu Elsa geradezu beflügelt, fasst er Mut und versuchte sich die Rolle des Heilsbringers einzuverleiben. Behle wusste stets die richtigen Gefühle auszudrücken – zwischen Optimismus und Verliebtheit, aber auch Melancholie und Verzweiflung lieferte er ein eindringliches Psychogramm eines Helden wider Willen. Stimmlich erfüllte Behle alle Erwartungen. Elegant zwischen lyrischer Noblesse und kraftvoller Dramatik changierend, gelang ihm eine intelligente Interpretation. Seine feste Stimme mit sicherer Intonation scheint geradezu für die Rolle des Gralsritters geschaffen.

Simone Schneider war eine ungewohnt dramatische Elsa, bei der man zwar die lyrisch-feinen Töne misste, sie aber ansonsten keine Wünsche offen ließ. Ihre elegante, voluminöse Stimme wusste sie mit makelloser Technik dennoch gefühlvoll einzusetzen. Ihr gegenüber stand Okka von der Damerau als dämonische Ortrud in Idealbesetzung. Zu ihr passte ebenso die berechnende Zwietrachtstifterin, wie die verzweifelte, Elsa anflehende Gefallene. Mit ihrem markerschütternden „Entweihte Götter“ ließ sie ihren opulenten Mezzosopran strahlen und so manchen die Nackenhaare sträuben.

Telramund galt hingegen als bloßer Spielball Ortruds, gefangen zwischen Rachegelüsten und unbändiger Gier nach Macht. So wird sein Wunsch nach Erfüllung politischer und erotischer Sehnsüchte ihm letztlich zum Verhängnis. Der Bariton Simon Neal verkörperte mit kraftvoll, rauer Stimme einen ruchlosen Grafen. David Steffens als versöhnlicher, aber passiver König Heinrich und Shigeo Ishino als stimmstarker Heerrufer komplettierten das durchweg hohe Niveau der Besetzung. Auch der Staatsopernchor und Extrachor der Staatsoper Stuttgart überzeugten mit stimmgewaltiger Durchschlagskraft und intensiver Darstellung.

Generalmusikdirektor Cornelius Meister wusste im Graben stets die richtigen Töne anzuspielen. Sowohl das getragene, verheißungsvolle Vorspiel, die festlichen Fanfaren der Morgenröte, als auch die infernalisch-entfesselten Wuchten zur Untermalung Telramunds wütender Anklage im zweiten Akt. Der Dirigent gestaltete mit anfänglich langsamen Tempi einen großen Bogen und ließ den Chor und das Orchester behutsam anschwellen. Stets fanden Meister und das Staatsorchester Stuttgart die passende musikalische Färbung und blieben dabei durchweg präzise und virtuos.

Angeregt von der hoffnungsvollen Stimmung durch den Retter findet ein gesellschaftlicher Wandel statt. Die Frauen emanzipieren sich, legen die graue Kleidung ab und lassen langsam Farbe in die triste Inszenierung kommen. Dieser Optimismus steckt auch die Männer an, die es ihnen gleich tun. Statt in der grauen Masse zu verschwinden bekennen sich viele nun zum Individualismus und tragen ihre Einzigartigkeit nach außen. Doch es kommt, wie es kommen musste: Das süße Lied verhallt und der Traum vom Retter platzt. Eine Schuldige ist auch schnell gefunden und so wendet sich das Volk sogleich gegen Elsa, die für das Verschwinden Lohengrins verantwortlich gemacht wird.

Kann der gesellschaftliche Wandel von einer einzelnen Person ausgehen? Kann einer allein ein ganzes Volk verändern? Diese kritische Betrachtung von Populismus, Führungsfiguren als Allheilmittel und mangelnde Kritik vom Volk thematisiert Árpád Schilling auf demaskierende und schonungslose Weise. Seine Inszenierung lebt von der detaillierten Personenregie seiner erfahrbaren und allzu menschlichen Charaktere, deren Ängste und Sehnsüchte zum Spiegel unserer selbst und unserer Zeit werden.

Während das Volk ernüchtert und enttäuscht einsehen muss, dass Lohengrin nicht der erwartete Heilsbringer ist, hat das Stuttgarter Publikum mehr Glück: Denn mit Daniel Behle hat es einen hervorragenden Lohengrin gefunden, der stimmlich und darstellerisch begeistert und zumindest auf der Opernbühne allen Erwartungen gerecht wird.

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