Nachdem Abbé Prévosts Romans Manon 1731 erschienen war, begeisterte das Schicksal der jungen Dame mit ausgeprägter Vergnügungssucht die Leser in ganz Europa. Allein vier Opernkomponisten griffen den Stoff auf: Auber und Massenet in Frankreich, Puccini in Italien, 1952 sogar Hans Werner Henze in seinem Boulevard Solitude, dazu Halévy bereits 1830 als Balletthandlung. Henri Meilhac und Philippe Gille hatten das Textbuch eingerichtet, einen ergreifenden Wettstreit der Leidenschaften zwischen Kloster und Spielsaal im mondänen Pariser Milieu sowie Familienehre und einsamem Tod aufgebaut. Dabei war es gar nicht das frivole Treiben, das Prévost veranlasste, seinen Roman unter Pseudonym zu veröffentlichen; seine schon damals kritische Gesellschaftsanalyse zwischen chancenlosen Kleinbürgern und rüden Bereicherungen von eingesessenem Blutadel sowie erstarkendem neureichen Geldadel ließ ihn die Zensur fürchten.

Dass dabei die Frauen besonders schlechte Karten für Aufstieg und Selbstständigkeit hatten, macht in der Neuproduktion von Jules Massenets Manon am Staatstheater Nürnberg die Regisseurin Tatjana Gürbaca deutlich: Manon, in braver Bluse und Faltenrock auf dem Weg ins von ihrer Familie vorbestimmte Klosterleben, lernt in Paris den jungen adligen Chevalier Des Grieux, einen gutmütigen Charakter im Holzfällerhemd, kennen. Anfangs siegt die Amour fou über die Vernunft, erscheinen Bistrotischchen und Plastikhocker ausreichend für die reine Liebe. Doch als Des Grieux in Geldnöte gerät, wird sie vom geldgierigen Bruder an den reichen, alten Brétigny verkuppelt, steigt in den Salons zum bewunderten Star der Pariser Gesellschaft auf, für den sogar Ballettrevuen im Varieté aufgeführt werden. Des Grieux zieht sich unterdessen als Priester ins Kloster St. Sulpice zurück. Liebe oder Besitzanspruch: Manon sucht das Kloster auf, um als verschlagen-demütig Werbende Des Grieux dem Priesterstand abspenstig zu machen. Als sein Erbteil aufgebraucht ist und das von Manon als vergnügungssüchtige Sirene angepriesene Glücksspiel betrügerisch scheitert, rettet der alte Baron den Sohn, lässt Manon dagegen unter schlechten Kerkerbedingungen todkrank werden. Der Chevalier kann die gebrochene Manon, die er immer noch liebt, zwar befreien, doch nicht mehr retten.

Schon in der Zeit der Aufklärung war der Sieg der Liebe über die Vernunft eine unerhörte Wendung; Tatjana Gürbaca fügt die Handlung in moderne Zeitumstände ein, bei denen noch immer Männer in kapitalistischer Manier sich mit Geld bereichern und sogar der Kirchendiener von der Spende verstohlen seinen Anteil abzweigt. Für Frauen bleibt da nur die Rolle des Anschaffens, für flüchtigen Genuss, Glitzer und Glamour; geringe Chancen für Manon zwischen Traviata und Anna Nicole.

Eleonore Marguerre stand als Manon im Fokus der verschlungenen Handlungsstränge, gab nach ihrer beeindruckenden Natascha in Prokofiews Krieg und Frieden eine weitere atemberaubende Charakterstudie: vom unschuldig naiven Landmädel in braver Bluse und kariertem Faltenrock durch die ganze schillernde Ausdruckspalette einer vielschichtigen Femme fatale zur gebrochen ausgestoßenen Verliererin. Ein halbes Dutzend Kostüme (Silke Willrett) wechselte sie geschwinde. Sängerisch begeisterte sie in warmen Brusttönen ihres ausdrucksvollen Mezzoregisters ebenso wie in betörender stimmlicher Beweglichkeit klarer Spitzentöne im dramatischen Ausbruch. In den Liebesduetten mit Manon fand auch Tadeusz Szlenkier als Des Grieux zu kraftvoller Tenorpracht, gefiel als salbungsvoller Priester, blieb aber mit wenig modulationsfähiger Stimme gerade in der Mittellage eher glanzlos und spielerisch kaum durchschlagend.

Der Kontrast zwischen den bitteren Wendungen der Handlung und dem absolut süßen Zauber in Massenets Melodien hatte auch Gürbaca am Werk gereizt. Guido Johannes Rumstadt am Pult löste aus den Philharmonikern vielfältig weiche Klangfarben französischer Elegance, ließ die Vielzahl instrumentaler Soli ausdrucksstark und schillernd aufblühen, ohne italienisches Pathos zu kopieren. Der von Tarmo Vaask einstudierte Opernchor konnte die ausgelassene Partystimmung der Varietégäste in turbulenten Ensembleszenen ebenso spritzig überschäumen lassen wie im bitteren Drill der Wachsoldaten Kälte verströmen. Ein Höhepunkt wurde dabei auch die Gottesdienst-Szene im Kloster St. Sulpice.

Gürbaca hatte im turbulenten Paris eine heimliche Hauptrolle der Oper gesehen. An Pariser Theater wie das Moulin Rouge scheint das Einheits-Bühnenbild (Marc Weeger) dreifach in die Tiefe gestaffelter metallisch kalter Rahmen mit Glühbirnen zu erinnern, das über die Werkdauer langweilig wird und ein Bewegungshemmer obendrein, da Sänger und Chor im Storchenschritt andauernd mühsam über diese Stolperfallen balancieren müssen. Ebenso abweisend wie das Sperrschild „Restricted area“ erscheint der nüchterne Laufsteg quer zu den Rahmen. Den urbanen Pariser Charme der Märkte sucht man in dieser dunklen Metroröhre vergebens, nur in der ausgelassenen Balletteinlage des dritten Akts, von Tänzerinnen und Bewegungsensemble des Nürnberger Theaters zu Lully-Tönen bravourös und lasziv präsentiert, wird der Revue-Bezug der Tanzshow offensichtlich.

Mit beeindruckend sonoren Basstönen formte Taras Konoshchenko die Ausstrahlung von Autorität des alten Grafen Des Grieux. Johannes Lang weckte in der (fast) stummen Rolle von Diener, Croupier oder Sergeant mitreißend Gespür für die feine Ironie des Stückes. Levent Bakirci spielte überzeugend Manons durchtriebenen Bruder. Dass die Halbwelt des 18. Jahrhunderts heute eher eine Unterwelt von Schlägertypen sowie Waffen- und Drogendealern ist, verkörperten mit Witz Hans Kittelmann als Guillot, Richard Morrison als Brétigny und Michael Fischer als Gastwirt und Passfälscher. Trotz Marguerres Manon-Triumph und hoher musikalischer Qualität: der Premierenapplaus wirkte auch bei Erscheinen des Regieteams nicht besonders enthusiastisch.

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