Es ist Samstag. Am Pult steht Oksana Lyniv, die Bühne im Nationaltheater ist schwarz verhangen. Sachte und mit großer Präzession kitzelt die jetzige Chefdirigentin der Oper Graz (und frühere Assistentin von Kirill Petrenko) die ersten Noten aus Béla Bartóks Konzert für Orchester hervor. Auf einer Leinwand beginnt zeitgleich ein Krimi zu laufen.

London, Prostitution, Entführung, Frauenschicksale – mit jeder Note entfaltet sich die packende Geschichte im Zwielicht der nächtlichen Stadt. Klangbewusst und nuancenreich führt Lyniv das Bayerische Staatsorchester durch das berühmte Konzert in fünf Sätzen von 1944. Wer hier das Sagen hat ist unklar. Film und Orchester umkreisen sich wie zwei Liebhaber, die einen gemeinsamen Höhepunkt suchen. Es bleibt packend und knisternd bis zum letzten Takt.

Nach gebührendem Applaus beginnt nahtlos und ohne Pause die eigentliche Oper des Abends. Herzog Blaubarts Burg heißt der Titel von Bartóks einziger Oper. Doch Katie Mitchell, die für diese Inszenierung die Verantwortung trägt, suchte andere Wege und übertitelt den Abend mit der weiblichen Hauptrolle des Werkes „Judith“.

Sie schließt sich damit, so heißt es im Programmheft, einer feministischen Lesart des Blaubart Stoffes an und die cineastische Untermalung zum Konzert solle ihr dafür einen glaubhaften Rahmen liefern. Das funktioniert erstaunlich gut. Nicht nur weil damit zwei Schaffensepochen von Bartók, Früh- und Spätwerk, übereinander gelagert werden, sondern auch, weil die Lesart durchweg schlüssig erscheint.

In der letzten Szene im kurz zuvor gesehenen Film hatte sich eine Undercoveragentin in eine Online-Plattform für reifere Prostituierte eingeschleust. Sie wurde vom Chauffeur des mutmaßlichen Entführers von drei Frauen abgeholt und nun hebt sich der Vorhang.

In einer Garage trifft Herzog Blaubart (John Lundgren) erstmals auf seine Judith (Nina Stemme). Doch diese ist hier nicht das Opfer. Nein, die entschlossene Agentin will die sieben Räume in Blaubarts Burg infiltrieren, weil sie drei verschollenen Frauen an diesem dunklen Ort vermutet. Und so steigt das ungleiche Paar mit jeder Szene und vollkommen unterschiedlichen Interessen tiefer in den Keller der Burg herab.

Die ausgeklügelte Bühne von Alex Eales führt, wie in einem raffinierten Guckkasten, den Zuschauer durch den Abend. Schlüssel für Schlüssel ringt Judith dem Herzog ab und öffnet damit die Türen zu einer Reihe von aufeinanderfolgenden grotesken Räumen. Auf einen Operationsaal folgt ein Gewächshaus, ein Tresor und schließlich ein Flugsimulator, die wohl jeweils zeitgenössische Sinnbilder für die märchenhaften Räume des Originals darstellen sollen. Oksana Lyniv begleitet die schlaglichthafte Szenerie mit perfekten Gespür für das Libretto. Sie lässt das Orchester furios aufbrausen, wenn die Szene es verlangt und tritt gekonnt in die zweite Reihe, wenn Judith und Blaubart ihren innigen Dialog fortsetzen.

Es ist ein echter Thriller, den man hier zu sehen und hören bekommt. Intensiviert wird die Spannung durch den extremen Fokus der Inszenierung: Ein Raum, zwei Sänger, ein Spotlight. Am Ende kämpft sich Judith bis zum letzten Raum vor, wo sie ihre drei Vorgänger angekettet vorfindet. Und auch das ist anders: Judith ringt Blaubart eine Pistole ab, befreite die Gefangenen und schießt dem Schlossherren erst ins Bein und dann ins Herz. Nacht umhülle so, anders als im Libretto, nicht die Burg, sondern allein den Herzog.

Das Zusammenspiel der beiden Sänger ist, freilich auf eine makabere Weise, unglaublich innig und schauerspielerisch stark. Lundgrens tiefer Bariton setzt in den düsteren Kasematten seiner Burg fast bassartige Akzente. Nina Stemme steht der eindringlichen Leistung des Schwedens in Nichts nach. Diese Judith ist weiß Gott kein ahnungsloses Mädchen mehr. Ihr dramatischer Sopran wechselt mühelos und mit dunkler Intensität zwischen Angst, Unsicherheit und der fordernder Bestimmtheit einer erfahrenen Agentin.

Aber es ist nicht nur die sängerische Leistung, warum man diese Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper unbedingt gesehen haben muss. Bühne, Regie, Dramaturgie, Kostüm, Licht und Orchester greifen wir ein gut geschmiertes Zahnrad ineinander. Auf abgedroschene (oder zu progressive) Topoi des Genderdiskurses wird verzichtet und trotzdem eine neuer Blickwinkel gefunden. Kurzum, eine echte Empfehlung!

*****