Mehr Mut, die Wirklichkeit zu erzählen!

Wie kann man das sich wiederholende Opernrepertoire ins 21. Jahrhundert führen? In Stuttgart und München geht man spannende neue Wege.

Marco Frei, München/Stuttgart
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Politisches Musiktheater stellt mitunter sogar die Machtfrage: Adam Palka in der Titelrolle von Modest Mussorgskys Zarenoper «Boris Godunow» an der Staatsoper Stuttgart.

Politisches Musiktheater stellt mitunter sogar die Machtfrage: Adam Palka in der Titelrolle von Modest Mussorgskys Zarenoper «Boris Godunow» an der Staatsoper Stuttgart.

Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart

Der arme Gottesnarr muss viel aushalten. In vielen Aufführungen der Oper «Boris Godunow» von Modest Mussorgsky wird er umgebracht: vom Volk selber, dessen Sprachrohr er eigentlich ist. Auch in der Neuproduktion der russischen Volksoper von Paul-Georg Dittrich in Stuttgart wird der Jurodiwy zum Schweigen gebracht. Er wird stranguliert, mit einem langen Tau, an dessen Ende zwei Mädchen ziehen. Denn die Wahrheiten der Narren sind schwer zu ertragen.

Genau das wusste schon William Shakespeare, auf den sich wiederum Puschkins Vorlage bezieht. Der russische Jurodiwy ist ein besonderer Narr: «Weine, weine, russisches Volk, du hungerndes Volk!», singt er bei Mussorgsky. Diese Klage avancierte in Russland zu einer heimlichen Hymne, ähnlich wie in Italien der Gefangenenchor aus Verdis «Nabucco». Für Puschkin und Mussorgsky steht der Gottesnarr indessen auch für die Kunst an sich und ihre kritische Wächter-Funktion in der Gesellschaft, durchaus nicht immer zum Wohlgefallen der Mächtigen.

Kunst und Konflikt

Diese Funktion ist eine besondere Spezialität der russischen Kunst, vom Zarenreich über den Sowjetkommunismus bis hin zum heutigen Putin-Staat. Wenn der Gottesnarr umgebracht wird, symbolisiert das in dieser Lesart zugleich den Tod der Kunst an sich. Dieses schauerliche, starke Bild provoziert geradezu eine Diskussion, die sich heute im Musik- und Opernbetrieb stellt. Alles dreht sich um die Frage, wann Kunst relevant ist. Während in anderen Künsten wie Sprechtheater, bildender Kunst, Film oder Literatur der zeitkritische Diskurs selbstverständlich ist, tut sich das Gros der Opern- und Konzerthäuser damit schwer.

Als Medium sei die Musik zu abstrakt, heisst es oft. Trotzdem ist die Musikgeschichte überreich an Werken, die unmissverständlich Haltung zeigen und klar Stellung beziehen, übrigens auch in der reinen Instrumentalmusik. Man muss nicht eigens auf Ludwig van Beethovens Idealismus oder Dmitri Schostakowitschs subversive Doppelbödigkeiten verweisen, um das zu erkennen. Diese Narrative wollen freilich ebenso klar und dramaturgisch schlüssig «erzählt» werden, und daran hapert es unterdessen gewaltig.

Dahinter steckt eine Angst vor dem Publikum, oder anders gesagt: vor der Wirtschaftlichkeit. Wenn allenthalben der Rotstift regiert, geht es häufig Orchestern und Operntheatern zuerst an den Kragen. Sie sind personell aufwendig und damit besonders teuer. Deswegen überwiegen inzwischen Spielpläne, die auf den Trampelpfaden des «Mainstream»-Repertoires wandeln: im Opernbetrieb überdies in Regiearbeiten, die möglichst nicht weh tun. Wenn Raritäten auf dem Programm stehen oder zeitgenössische Stücke, werden diese deshalb nicht selten mit bekannten Zugstücken gekoppelt.

Opern-Thriller und Volksoper

Diese «Sandwich-Dramaturgie» folgt zumeist keinem Narrativ, sondern in erster Linie dem erhofften und notwendigen wirtschaftlichen Erfolg. Umso spannender waren zwei Premieren, die jetzt in Stuttgart sowie an der Bayerischen Staatsoper in München realisiert wurden: weil in ihnen Konventionen des Betriebs kritisch befragt wurden.

Für München ist das besonders bemerkenswert, weil das dortige Nationaltheater nicht gerade für besonders ausgeprägte Programmexperimente steht. Ganz anders die jetzige Bartók-Premiere: Statt den Einakter «Herzog Blaubarts Burg» von 1918, wie sonst üblich, mit einer anderen gängigen Kurzoper zu koppeln, wählte die Regisseurin Katie Mitchell ein Instrumentalwerk von Béla Bartók. Vor der eigentlichen Oper dirigiert Oksana Lyniv das «Konzert für Orchester» von 1943. Schon rein musikalisch ist diese Wahl klug, denn: Im dritten Satz des Konzerts zitiert Bartók – damals wohl seinerseits in gegenwartskritischer Absicht – die Musik zum «Tränensee» aus seinem «Blaubart». Beides wird jetzt in München sinnstiftend zu einem Opernkrimi vereint: «Judith», betitelt nach der weiblichen Hauptrolle der Oper.

Hier ist nichts so, wie es scheint: Als verdeckte Ermittlerin versucht Judith (Nina Stemme) dem Frauenmörder Blaubart (John Lundgren) auf die Schliche zu kommen.

Hier ist nichts so, wie es scheint: Als verdeckte Ermittlerin versucht Judith (Nina Stemme) dem Frauenmörder Blaubart (John Lundgren) auf die Schliche zu kommen.

Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper München

Während des Konzerts zeigt ein Film die Vorgeschichte. Demnach ist Judith eine Polizistin, die einem Frauenmörder auf der Spur ist. In der Burg Blaubarts setzt die Oper ein, und er ist der Täter. Es entwickelt sich ein Psychothriller, fesselnd in Gesang und Spiel dargestellt von Nina Stemme und John Lundgren. Das erinnert an den Kult-Schocker «Das Schweigen der Lämmer» von 1991. Die Bühne von Alex Eales lässt die sieben Räume der Burg nacheinander vorbeiziehen. In Echtzeit dringt das Publikum mit der verdeckten Ermittlerin Judith immer tiefer in die Horrorwelt Blaubarts ein, bis zum finalen Duell.

Repressives Kontinuum

Noch mutiger ist das «Boris»-Projekt in Stuttgart. Hier wird die Puschkin-Oper Mussorgskys mit einem neuen Musiktheater des Russen Sergei Newski gekoppelt. Damit wird jedoch nicht einfach einer Uraufführung auf die Bühne geholfen, es geht vielmehr um die Erschaffung einer neuen russischen Volksoper. Die Voraussetzungen sind optimal, zumal das Musiktheater «Secondhand-Zeit» von Newski auf dem gleichnamigen Buch von Swetlana Alexijewitsch von 2013 basiert.

Die Schriften Alexijewitschs setzen die Wächter-Funktion der russischen Kunst fort. Dafür wurde sie 2015 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Sie gibt dem Volk individuelle Gesichter, indem sie Einzelpersonen über ihren Sowjetalltag sprechen lässt. Ein Muster aus persönlichen und kollektiven Erinnerungen entsteht. Damit unterbricht und erweitert Newski die Oper Mussorgskys. Um Macht und Machtmissbrauch geht es, und die Ergänzungen Newskis und Alexijewitschs entlarven die russische Geschichte als ein repressives Kontinuum.

Dass dieses Konzept in Stuttgart szenisch am Ende trotzdem nicht aufging, lag keineswegs an Newskis hellhörigen «Intermezzi». Auch die Leitung von Titus Engel sowie die Solisten, allen voran Adam Palka als sensibler, ungewohnt junger Zar Boris, waren stark. Was den Abend behinderte, waren die pseudoironischen, geradezu stumpfsinnigen Russland-Klischees der Regie von Paul-Georg Dittrich. Vor allem aber fehlte Dietrich das, was Katie Mitchell in München zeigte: Mut zum linearen Erzählen – verbunden mit einer klaren Haltung. Beides könnte das heutige Musiktheater in deutlich stärkerer Dosierung gut gebrauchen.

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