„O ihr Menschen die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet, wie unrecht tut ihr mir, ihr wisst nicht die geheime Ursache [...] aber bedenkt nur dass seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hoffnung gebessert zu werden, betrogen, […] o wie hart wurde ich durch die traurige Erfahrung meines schlechten Gehörs dann zurückgestoßen, und doch war es mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: Sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub!“

So beginnt das Heiligenstädter Testament, jener Brief, den Beethoven an seine Brüder schrieb und in dem er offen über seinen immer schlechter werdenden Gesundheitszustand, besonders aber die fortschreitende Ertaubung und die damit verbundene gesellschaftliche Isolation sprach. Der Entzug seiner Schaffensgrundlage, seines Gehörs, ließ in ihm Suizidgedanken aufkeimen. Doch scheinbar nur Dank der Musik besann er sich eines besseren und schrieb: „Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück“.

Nur ein halbes Jahr später komponiert Beethoven sein Oratorium Christus am Ölberge; es ist eines der ersten größeren Werke, das er nach der Erkenntnis seiner Ertaubung verfasste. Die Geschichte der letzten Stunden vor Jesu Tod, im Garten Gethsemane, als seine Verhaftung kurz bevorsteht und er seinen Vater um Trost in den letzten Leidensstunden bittet, weist durchaus biographische Parallelen auf. Jesus, der vom Librettisten Franz Xaver Huber durch diese überaus freie Bearbeitung des Evangelienberichtes betont menschlich dargestellt wurde, mit seiner Angst vor den Qualen der Kreuzigung und dem unausweichlichem Tod, traf zwar auf Verwunderung beim Publikum, spiegelt aber durchaus Beethovens eigenen Gemütszustand wieder. Leiden, Zweifeln und Ausgrenzung werden so zum elementaren Bestandteil seines künstlerischen Schaffens.

Diese Selbstzweifel werden ebenso in Ein Brief thematisiert, das dem Oratorium am Theater Bonn prologartig vorangestellt wurde. Diese „Reflexive Szene für Bariton, Streichquartett und Orchester“ ist eine Auftragskomposition des Theaters, das an diesem Abend seine Uraufführung fand. Manfred Trojahn, einer der renommiertesten deutschen Komponisten der Gegenwart, dessen Opern weltweit aufgeführt werden, erklärte sich bereit, den Text von Hugo von Hofmannsthal, einem fiktiven Brief des Lord Chandos an seinen Mentor Francis Bacon, in dem er von Selbstzweifeln geplagt und sich nach „zweijährigem Stillschweigen“ fragt, ob er an seine früheren Leistungen anknüpfen kann, zu vertonen.

Dieses Unbehagen, diese Unzulänglichkeit versucht Trojahn in seiner Musik einzufangen. Die Komposition bewegt sich zwischen sentimental säuselnden und streicherlastigen Passagen und immer wieder hereinbrechender Kakophonie, jedoch wenig bombastisch, stattdessen eher einen bedrückenden Klangteppich für Holger Falks Monolog bildend. Dieser interpretierte den 40-minütigen Sprechgesang mit seiner variationsreichen Baritonstimme und angenehmen Legato und lieferte so eine eindringliche Darstellung zwischen steter Ungenügsamkeit und Scheitern vor den eigenen Ansprüchen.

Das Oratorium Christus am Ölberge, wie viele Oratorien, stellt die Regie mangels dramatischer Struktur und klassischer Spannungsbögen vor eine große Herausforderung. Regisseurin und Choreografin Reinhild Hoffmann entschied sich bei ihrer Interpretation auf abstrakte Symbolik und zeitlose Bilder, deren Choreografien – mit fluiden Bewegungen von Tänzern und Chor – beeindrucken und weitestgehend überzeugten. Alle TänzerInnen und der Chor sind grau gekleidet; nur die Kostüme der Solisten treten farblich in den Vordergrund. Die Charaktere entsprangen wortwörtlich der Bibel, die überdimensioniert auf der Bühne stand, und waren so Mensch gewordene und erfahrbare Personen ihrer altertümlichen Erzählungen.

Jesus, gesungen von Kai Kluge, beeindruckte in dieser anspruchsvollen Rolle mit klangschöner Tenorstimme mit subtilem Schmelz und standhaften Höhen. Ilse Eerens sang Seraph mit klarem, irisierendem Sopran und Seokhoon Moon als Petrus rundete mit voluminöser Baritonstimme die hervorragenden Leistungen des Abends ab.

Ebenso sperrig wie der Hofmannsthalsche Text daherkam, hob die Regie auch die dramaturgischen Defizite des Oratoriums heraus. Die Reflexive Szene wächst nicht über ihre Stellung als Quasi-Prolog hinaus. Auch musikalisch werden wenig Spannungsbögen entfaltet. Das Fehlen eines Erzählers in Beethovens Werk, das Ernst-genommen-werden-wollen der Handlung – all dies geht nicht auf, sondern wirkte mitunter allzu amüsant. Stattdessen galt es sich auf die Musik zu konzentrieren. Das Beethoven Orchester Bonn unter Leitung von Dirk Kaftan vermochten die konträren musikalischen Besonderheiten herauszuarbeiten. Während Trojahns Brief lautmalerische Stimmung von Verzweiflung und Scheitern hervorbrachte, schufen sie mit einem warmen, homogenen Klang eine optimistische, lebensbejahende Interpretation Beethovens Oratoriums. Der Chor des Theaters Bonn übertraf sich mit stimmlicher Präsenz und Durchschlagskraft.

Kurz vor dem Finale trat Holger Falk erneut auf die Bühne und sprach jene einleitenden Worte aus Beethovens Heiligenstädter Testament. Erst dann folgte abschließend der Schlusschor mit „Preiset ihn, ihr Engel“, der mit seiner einnehmenden und überwältigenden musikalischen Schönheit an Beethovens „Freude schöner Götterfunken” erinnern ließ.

Das Scheitern, oder die Angst davor, gilt bei diesem Doppelopernabend als universales, geradezu verbindendes Element. Als unabdinglicher Bestandteil des Schaffens eines jeden Künstlers – ob Beethoven oder Hofmannsthal – jeder sieht sich dem konfrontiert. Für das Theater Bonn was es jedoch ein Triumph dieses selten aufgeführte Oratorium mit Trojahns Komposition in neue Form zu gießen und ungewohnte Einblicke in Beethovens Schaffen zu geben, in einen neuen Kontext zu stellen und so neue biographische Erkenntnisse zu teilen.

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