«Fidelio» und die Krise: Wer rettet Florestan jetzt aus diesem Labyrinth?

In letzter Minute vor dem Shutdown bringen Christoph Waltz und Tobias Kratzer Beethovens Befreiungsoper auf die Bühne. Die beiden Produktionen könnten nicht unterschiedlicher sein.

Regine Müller, London
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Das Berliner Architektenbüro Barkow Leibinger hat für den Wiener «Fidelio» eine verschlungene Treppenlandschaft auf die Bühne gewuchtet.

Das Berliner Architektenbüro Barkow Leibinger hat für den Wiener «Fidelio» eine verschlungene Treppenlandschaft auf die Bühne gewuchtet.

Monika Rittershaus /
Theater an der Wien

Die Befreiungsoper müsste das Genre der Stunde sein. Ihrem Handlungsmuster – der finalen Errettung aus übermächtig erscheinender Bedrängnis – dürfte in unseren Tagen ähnlich beglückt applaudiert werden wie einst im nachrevolutionären Paris, wo die neue Opernmode schnell populär wurde. Das war seinerzeit auch Beethoven nicht entgangen. Sein «Fidelio» blieb dennoch ein Schmerzenskind mit vier Ouvertüren, drei Fassungen und einer sperrigen Dramaturgie. Im Beethoven-Jubiläumsjahr sind jetzt zwei prestigeträchtige Neuproduktionen in letzter Minute vor dem Shutdown noch fertig geworden: Tobias Kratzers Inszenierung am Londoner Royal Opera House und Christoph Waltz’ Deutung am Uraufführungsort, dem Theater an der Wien, die allerdings nicht mehr zur Live-Premiere kam, sondern vorerst nur in einer TV- und Streaming-Version existiert.

In London und Wien stehen einander die finale Version der Oper und deren zweite Fassung gegenüber. Ausserdem trifft der Eindruck einer ausverkauften Vorstellung in Covent Garden auf eine ersatzweise am Bildschirm erlebte Aufführung. Dennoch zeigen beide Produktionen exemplarisch die Herausforderungen auf, die sich jedem Regisseur stellen.

Da rollen Köpfe

Mit Tobias Kratzer hat man in London einen furchtlosen Theatermacher engagiert, der vergangenes Jahr in Bayreuth mit sprühenden Ideen Wagners «Tannhäuser» dekonstruierte. Beethoven aber geht Kratzer mit seltsamer Zurückhaltung an, ja, er kapituliert regelrecht vor der Spielopernhälfte des Werks. Dieser erste Teil wird lediglich präzis in der angestaubten Bühnenästhetik des mittleren 20. Jahrhunderts nacherzählt. Rainer Sellmaiers Bühne zeigt dazu einen naturalistischen Gefängnishof in der Zeit des Terrors nach dem Ausbruch der Französischen Revolution. Hinter einer Mauer sind offenbar Köpfe gerollt, die von zotteligem Personal gleich körbeweise hereingetragen werden. Mehr Schwung kommt erst in die Szene, als der Bösewicht Pizarro auftritt und auch der bisher recht pauschal agierende Antonio Pappano am Pult mehr Biss entwickelt.

Im zweiten Teil ist die Bühne leergefegt, vor einer weissen Wand sitzt eine modern gekleidete Menge im Halbkreis, in ihrer Mitte eine felsige Insel, auf der Startenor Jonas Kaufmann als Florestan angekettet liegt. An den Wänden flimmern Close-ups aus der Menge, die das Geschehen wie im Kino verfolgt. Als die Situation im Kerker eskaliert, fällt mit dem berühmten Trompetensignal ein erlösender Schuss, der Pizarro trifft. Diesen Schuss feuert überraschenderweise die sonst leicht tragikomisch wirkende Kerkermeisterstochter Marzelline ab, deren Rolle Kratzer damit deutlich aufwertet. Und in der finalen Szene wendet sich scheinbar doch noch alles zum Guten, wenn die Kinobesucher – der Chor – aus ihrer Passivität aufschrecken und das Militär entwaffnen.

Passend zum vagen Konzept will auch die musikalische Seite nur wenig Funken schlagen. Pappano stimmt insgesamt massvolle Töne an, es klappert in der Balance zwischen Graben und Bühne. Jonas Kaufmann singt souverän, offenbar wieder im Vollbesitz seiner stimmlichen Kräfte. Zum Publikumsliebling aber schwingt sich Lise Davidsen auf, die ihre Leonoren-Partie mit durchdringendem Strahl hochdramatisch anlegt.

Im Theater an der Wien ist der Star der Inszenierung hingegen das Einheitsbühnenbild: Das Berliner Architektenbüro Barkow Leibinger hat eine atemberaubend verschlungene Treppenlandschaft auf die Bühne gewuchtet, eine Konstruktion, die an eine Doppelhelix erinnert, aber auch an Piranesis Kerker und Eschers verschlungene Möbius-Bänder. Bevor der erste Ton erklingt, lässt der aus Wien gebürtige Hollywood-Star und Gelegenheitsopernregisseur Christoph Waltz einen Mann in einem spektakulären Stunt die Treppen hinunterstürzen.

Geist der Filmregie

Die danach einsetzende Handlung erzählt Waltz dann wie Kratzer ziemlich vorschriftsmässig, allerdings mit ungleich stärker zugespitzten darstellerischen Akzenten. Vor den blendend weissen Treppen will Marzelline (Mélissa Petit) erst einmal eine Zigarette rauchen, bevor sie ihre Liebe zu Fidelio besingt und gleich danach bemerkenswert kratzbürstig mit dem ihr nachstellenden Jaquino (Benjamin Hulett) streitet. Nicole Chevalier in der Titelrolle steckt in einer an Mao-Anzüge erinnernden Uniform und bietet stimmlich und darstellerisch eine wesentlich differenziertere Leonore als Lise Davidsen in London.

Tarantino-Star Waltz hat erkennbar an der Personenregie im Geist der Filmregie gefeilt. Auch die Nebenfiguren gewinnen so Kontur und Glaubwürdigkeit. Und womöglich war es für Waltz auch ein Glücksfall, dass das Theater an der Wien unvermutet zum Filmstudio wurde: Ursprünglich war geplant, eine Vorstellung nach der Premiere aufzuzeichnen und am 20. März live auszustrahlen. Doch das Aufzeichnungsteam aus Italien steckte in einer der Sperrzonen fest, und dann wurde klar, dass die einzige Chance einer Rettung der Produktion ins gefilmte Format darin bestand, mit einem improvisierten Team die letzten Probentage aufzuzeichnen und daraus einen Film zu schneiden.

Die Gesamtwirkung des übermächtigen und visionär von Isolation kündenden Bühnenbilds ist in den Chorszenen zu erahnen, allerdings gönnt Waltz dem berückend singenden Arnold-Schoenberg-Chor bewusst nur oratorische Starre. So liegt szenisch trotz intensiv verdichteten Momenten eine distanzierte Kühle über dieser Produktion, die Manfred Honeck am Pult der mit drängender Emphase spielenden Wiener Symphoniker jedoch mit Erfolg konterkariert.

Honeck schlägt historisch informierte, schlanke Töne an, durchleuchtet die Partitur sehr differenziert und begleitet die Sänger mustergültig. Eric Cutler hat als Florestan in der zweiten Fassung weniger himmelstürmende Passagen zu singen, beglaubigt das Leid dieses Gefangenen aller Gefangenen aber mit innerer Glut. Das erscheint symptomatisch für den Wiener «Fidelio», von dem eine ungleich höhere Dringlichkeit ausgeht als von der Londoner Version. Hoffentlich wird man diesen Eindruck eines Tages in Live-Aufführungen überprüfen können.