Ein Flügel, ein Tisch, ein Stuhl und im Hintergrund die leere Kulisse der fünf Ränge der Bayerischen Staatsoper. Es ist eine verkehrte Welt, wenn in der Corona-Zeit die Opernhäuser wieder ihre Tore öffnen, denn statt im Zuschauerraum saßen die fünfzig Gäste diesmal mit den Künstlern auf der Bühne. Eine andere Perspektive und eine spannende Möglichkeit für Experimente. Denn wenn beim Janácek-Zyklus Tagebuch eines Verschollenen die leeren Ränge glutrot aufleuchten und die Königsloge mit Silberfäden glitzernde Effekte bietet, macht das einerseits melancholisch und ist andererseits richtiggehend erhebend. Die Bühne auf der Bühne bespielt der slowakische Tenor Pavol Breslik mit seinem Klavierbegleiter Róbert Pechanec. Am Ende des Abends wird er der Bühne einen Handkuss zuwerfen und sagen, wie glücklich er ist wieder hier auf der Bühne stehen zu dürfen. In den gut 45 Minuten zuvor durchwanderte er die 22 Lieder, die von der inneren Zerrissenheit des Protagonisten zwischen ländlicher Familienidylle und feuriger Liebe zu einer Zigeunerin erzählen.

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Pavol Breslik
© Wilfried Hösl

Regisseurin Frederike Blum inszenierte den Zyklus minimalistisch-halbszenisch und schuf dennoch ein packend unmittelbares Psychogramm dieses zerrissenen Protagonisten Janíček. Und dem exzellenten Schauspieler Breslik reichten die wenigen Utensilien aus. Mal roch er an einer abgerupften Gerbera, mal wickelte er sich in die Tischdecke ein, dann verband er sich damit die Augen. Es hilft alles nichts, am Ende muss sich Janícek entscheiden und er tut es für die Liebe. Dass der Zyklus im finalen „Lebt nun wohl, ihr Fluren“ mit hohem C beschließt ist plakativ, klang bei Breslik mit voller Emotion dem Publikum entgegen geschmettert aber lebensnotwendig. Daneben ist es aber die lyrische Qualität seiner Stimme, die er mal unruhig nach vorne drängen, mal verträumt in großen Linien klingen ließ.

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Pavol Breslik
© Wilfried Hösl

Am Flügel agierte Pechanec präzise mit teilweise mechanisch-stählerner Härte und absoluter rhythmischer Prägnanz. Im Klaviersolo kontrastiert Pechanec im Zentrum des Zyklusses die düster tiefliegenden Zweifel mit zupackenden Oktavgriffen im unteren Register mit den schillernd süffigen Linien in der rechten Hand.

Die zusätzlichen Frauenstimmen, die mit Daria Proszek, Mirjam Mesak, Sarah Gilford und Noa Beinart komplett mit Mitgliedern des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper besetzt waren, platzierte Blum im hinteren Teil der Bühne, sodass ein räumlicher Eindruck entstand.

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Robert Pechanec und Pavol Breslik
© Wilfried Hösl

Zum Schluss als klar ist, dass Janíček sich für die Zigeunerin entscheidet, stürmte Breslik von der Bühne in den Zuschauerraum und kletterte in Roberto-Benigni-Manier über die Stühle des Parketts als ob da die wirkliche Freiheit läge. Nach viel Applaus gab Breslik noch ein slowakisches Volkslied zu, das – wie könnte es anders sein – davon erzählt wie ein junger Mann über die Berge wandert, um seine Liebste zu sehen. Im Anschluss wurden schließlich die Zuschauer einzeln aufgefordert, die Oper zu verlassen. Einerseits ist das natürlich vorbildlich im Sinne des Infektionsschutzes, machte aber gerade bei einem so spannungsreichen, psychologisch aufgeladenen Programm auch viel der Stimmung wieder kaputt. Man wird sich wohl aber vorerst daran gewöhnen müssen. 

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