Rache am Swimmingpool

Die Salzburger Festspiele starten mit einer vom Publikum gefeierten "Elektra" voller Zwischentöne

02.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:18 Uhr
Mutter und Tochter belauern sich: Klytämnestra (Tanja Ariane Baumgartner, rechts) spürt die Gefahr, die von Elektra (Ausrine Stundyte) ausgeht: Szene aus "Elektra" von Richard Strauss. −Foto: Uhlig

Salzburg - Fast ist es so, als hätte es die Corona-Epidemie nie gegeben.

 

Die Salzburger Festspiele finden statt, und alles wirkt beinahe so wie immer. Sicher, das Kartenkontingent ist diesmal schmaler als sonst, nur 76000 Karten gehen über den Ladentisch anstatt der sonst geplanten 240 000. Aber das hat nicht nur mit den Beschränkungen an den Veranstaltungsorten zu tun, sondern ist einfach der Tatsache geschuldet, dass heuer weit weniger Produktionen und Aufführungen angeboten werden. Ansonsten: Salzburg feiert, Salzburg tobt und spielt. Die übliche Festspielmischung aus überhitzten Konzertorten, Glamour, Reichtum, Salzburger Nockerln, Schweiß und Wichtigtuerei durchzieht die enge historische Altstadt. In der ebenso pittoresken wie schamlos kommerzialisierten Getreidegasse drängeln sich die Besucher - wie eigentlich in jedem Jahr. Das Hygienekonzept ist eher vollmundig angekündigt worden, als dass wir dessen Auswirkungen wirklich spürten. Beim Eintritt von "Elektra" von Richard Strauss, der diesjährigen Eröffnungspremiere, stehen die Besucher in Smoking und Abendkleid dicht an dicht, meist ohne Mund-Nase-Schutz. Sicher, es gibt am Eingang Ausweiskontrollen, und der Saal ist etwas lichter besetzt. In der Felsenreitschule sind nur 890 Gäste zugelassen, statt der sonst üblichen rund 1400. Zwischen den Besuchern bleibt ein Sitz frei, es sei denn die Gäste gehören zusammen. Keine Frage: In Salzburg herrschen die Gesetze des Tourismus und nicht die der Vorsicht.

So wählte die Festspielleitung auch zum Auftakt ein so gigantomanisches Werk aus, dass man kaum versteht, warum nicht auch die Wagner-Festspiele in Bayreuth hätten stattfinden können. Eine Hundertschaft der Wiener Philharmoniker musiziert dicht gedrängt im Orchestergraben, auf der 40 Meter breiten Bühne scheren sich die Darsteller der "Elektra" nicht viel um Abstandsregeln. Es ist alles wie immer, steigende Infizierten-Zahlen stören und werden, so wirkt es zumindest, lieber verdrängt.
Dafür verströmen die Festivalmacher und Besucher überall Dankbarkeit. Die Salzburger Festspiele sind schließlich das einzige Festival von Rang weltweit, das nicht abgesagt hat.
Mit der "Elektra"-Produktion zeigen die Festspiele fast schon einen verstörenden Mut zur Kontinuität. Zum 100. Geburtstag des Festivals wird einfach weitergemacht, nach "Salome" und "Rosenkavalier" in den vergangenen Jahren kommt nun eine weitere Strauss-Oper ins Programm mit dem gleichen bewährten Dirigenten, Franz Welser-Möst.

"Elektra" von Richard Strauss und dem Dichter Hugo von Hofmannsthal ist eins der großen Rachedramen. Wie kaum ein anderes Werk überhaupt zeigt es die Wucht, die Wut, die Verzweiflung der Rache. Regisseur Krzysztof Warlikowski lässt nicht eine Hundertschaft Musiker brutal laut den Anfang machen - sondern zirpende Grillen in nächtlicher Atmosphäre. Klytämnestra tritt ans Mikrofon raunt die Vorgeschichte der Tragödie aus der "Orestie" von Aischylos bis sie immer lauter, energischer spricht, bis sie brüllt mit erhobenen Armen, sich rechtfertigt für ihren Mord an ihrem Gemahl Agamemnon. Das ist aufrührend, extrem. Während daneben ihre Tochter Elektra sitzt. Man sieht ihr an, wie es in ihr rumort und tobt, wie sie auf blutspritzende Rache für ihren Vater sinnt. Rache gebiert neue Untaten, in einem nicht enden wollenden Kreislauf. Warlikowski verlegt die Handlung an eine in die Jahre gekommene Badeanstalt mit Duschen und einem länglichen Pool. Es geht um Reinigung, Reinigung von der schweren Seelenlast. Da wäscht sich eine nackte Frau im Hintergrund, aber es wirkt wie ein Leidensakt. Ein Mann durchschreitet langsam das Becken in voller Kleidung, als wollte er auf diesem Wege in eine andere Welt treten. Daneben planschen Kinder harmlos im Pool. Neben der Schwimmanlage steht gläsern glänzend der Königspalast, Projektionen übertragen die eisige, gespannte Stimmung dort.

Warlikowski aber gelingt vor allem die Eindimensionalität dieser Rache-Oper zu brechen. Da ist Elektra kein blindwütiger Rache-Engel, sondern ein zorniges Mädchen, das energiegeladen, mit Charme und Furor ihre sehr weibliche Schwester Chrysothemis zur Mittäterschaft anstiften möchte. Bis die beiden fast einen komischen Kampf aufführen. Da ringt sie mit ihrer Mutter Klytämnestra, voller Sarkasmus und wieder voller Vertrauen. Bis die Nachricht eintrifft, ihr Bruder Orest, der den Vater eigentlich rächen soll, sei tot. Die Lichter über der Szenerie werden herabgefahren, als stünden sie wie Fahnen auf Halbmast.

Aber Orest ist nicht tot, er tritt nur inkognito auf. Warlikowski zeigt ihn als kahlköpfigen Wüterich, der seine Mutter brutal ersticht. Der Triumph allerdings, das macht die Musik von Strauss deutlich, ist keiner. Im Hintergrund treten die Erinnyen auf, die Rachegötter, in Form von Fliegen. In der Videoprojektion kommen bald Ameisen hinzu, strömen von allen Seiten beängstigend näher, vertilgen die Blutspuren auf dem Bild, rennen immer schneller wie in einem Strudel, bis sie plötzlich wie in einem Horrorfilm dem Publikum entgegenschwirren. Elektra bricht darüber zusammen und stirbt, während Orest völlig verstört die imaginären Fliegen vertreibend über die Bühne hastet.

Er allerdings hat nicht Ägisth, Klytämnestras neuen Ehemann umgebracht, sondern Chrysothemis. Sie wächst in dieser Inszenierung über sich hinaus, sie zeigt, dass sie leben will. Und sie handelt, anders als Elektra, die nur düstere Pläne schmiedet. In diesem Moment flippt die Musik schier aus

Franz Welser-Möst legt die Partitur mindestens so vielschichtig aus wie Regisseur Warlikowski. Gerade die wienerisch-weichen Passagen gelingen ihm in ihrer melodischen Eindringlichkeit grandios, dafür fehlt es im Schlussteil dem Orchester manchmal an Ecken und Kanten, an brutaler Wucht. Welser-Möst ist ein grandioser Begleiter, der trotz aller orchestraler Monstrosität niemals die Sänger überdeckt.

Und die sind durchwegs hervorragend besetzt. Sicher, Ausrine Stundyte als Elektra besitzt eher eine machtvolle, durchdringende Stimme als eine wirklich schöne. Deshalb auch läuft ihr Asmik Grigorian als Chrysothemis fast den Rang ab, weil sie auch überirdischen Wohllaut verbreitet. Eindrucksvoll Tanja Ariane Baumgartner, nicht nur durch ihre durchdringende Tiefe, sondern auch als fantastische Monolog-Sprecherin am Anfang.

Also ein durchweg vorzügliches Sänger-Ensemble in einer wirklich festspielwürdigen, vom Publikum umjubelten Produktion - so, als wäre nichts weiter gewesen, fast als wäre die Corona-Krise längst Geschichte. Ein 100-jähriges Urgestein sind diese Salzburger Festspiele - einfach unverwüstlich.

DK


Die Inszenierung kann auf Arte concert im Internet angesehen werden.

Jesko Schulze-Reimpell