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Foto: Andreas Etter
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Musikalisch-szenische Eulenspiegelei – „Nr. 50“ („The Garden“) von Richard Ayres am Staatstheater Mainz

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Einen Tag vor der Aufführung musste das Staatstheater Mainz im Frühjahr die Premiere von Luigi Nonos Oper „Al gran sole carico d‘amore“ absagen. Der Sender „Deutschlandfunk Kultur“ konnte gerade noch die Generalprobe übertragen. Wann die aufwändige Inszenierung zu sehen sein wird, bleibt ungewiss. Jetzt hat das Musiktheater die neue Saison mit einem Stück zeitgenössischer Musik begonnen – unter Beachtung der Corona-Bedingungen, knapp einstündig, „halbszenisch“, aber immerhin als deutsche Erstaufführung. „The Garden“, das zwei Jahre alte Werk „Nr. 50“ des britischen Komponisten Richard Ayres, ist von Nonos Ernsthaftigkeit allerdings denkbar weit entfernt.

Es ist ein warmer Sommernachmittag. Ein Stadtbewohner geht in den Garten, eigentlich, um sich auszuruhen. Tatsächlich aber erlebt er – und wir mit ihm – drei merkwürdige Episoden. Zuerst gräbt er mit seinem Spaten einen immer tieferen Schacht in die Erde und stößt dabei auf die seltsamsten Figuren und Gestalten. Dann klettert er auf seinen Apfelbaum und unternimmt von dort eine Flugreise bis ins Weltall. Schließlich findet er sich wieder in seinem Garten und darf anhören, wie ein uraltes Bakterium die Welt sieht. Der Komponist, 1965 in der britischen Region Cornwall geboren und in den Niederlanden lebend, kommentiert sein Szenario mit den Worten: „Sehen wir als Publikum die Realität, oder beobachten wir einen Traum und eine Fantasiewelt? Ist der Mann wirklich wach, schläft er, oder ist er sogar tot? Das möchte ich mehrdeutig halten.“

Es gehört wohl zum typisch britischen Witz und Humor, dass der Komponist dem Publikum vorab eine gemischte Portion Tiefsinn und Rätselhaftigkeit verabreicht. In Mainz kommt Derrick Ballard ganz pragmatisch gleich mit zwei Flaschen Bier auf die Bühne des Großen Hauses, öffnet derer eine und setzt sich auf die vor dem Orchester hängende Schaukel. Was liegt näher, als dass er einnickt und zu träumen anfängt? Tatsächlich folgt die gesamte Schreibweise und Anlage des Stückes der Logik des Traumes, der ohne Rücksicht auf konventionelle Dramaturgie skurrile Situation aneinanderreihen, sie verlängern, abkürzen und unvermittelt abbrechen kann, dabei aber durchaus bruchstückweise Realität spiegelt, sie kaleidoskopartig durcheinander schüttelt und ins Absurde verkehrt.

Statt sich auszuruhen, steigert sich der Träumer in einen Grabungsrausch und begegnet einer Vielzahl von skurrilen Figuren, die sich ihm auf seiner Entdeckungsreise anschließen: Einem Wurm, einem vor über 250 Jahren gefallenen Soldaten mit Grabstein, einem Basilisken, einem Fossil, einem Wangee, und schließlich dem Liebespaar Paolo und Francesca aus Dantes „Inferno“. All diese Figuren singt Derrick Ballard selbst – teils mit verstellter, teils mit elektronisch verzerrter Stimme. Besonders komisch ist dabei mit barockisierender Musik unterlegte Szene, in der er als Francesca falsettierend den Geliebten anschmachtet und als Paolo mit kräftigem, virilen Bass nach ihrem Namen fragt: „Lucia? Giuletta? Luigi? Cassandra? …“  Dazwischen leistet als Ritornell aus dem Lautsprecher ein Himmelschor im Monteverdi-Stil geistlichen Zuspruch. Das Publikum darf nicht nur den englischsprachigen Dialogtext in deutscher Übersetzung auf dem Bildschirm verfolgen, sondern auch die (imaginären) Szenenanweisungen und Kommentare des Komponisten. So freut man sich zu lesen: „Was ist ein Wangee?“ Doch statt einer Antwort fertigt uns Ayres mit der Bemerkung „Gute Frage!“ ab und fährt mit der Nonsense-Grabung fort.

Die Information, dass Ayres einst bei den Darmstädter Ferienkursen in den Kursen Morton Feldmans die Berufung zum Komponisten verspürte, lässt aufhorchen. Seine Partitur für Kammerorchester mit reich besetztem Schlagzeug und einem vielseitig programmierten Keyboard hat zwar eine Tendenz ins Minimalistische, aber sie hat mit Feldmans feinsinnig gewebten Texturen genauso wenig gemein wie mit der mitteleuropäischen Avantgarde-Tradition. Eher finden wir eine Verwandtschaft zu den Eulenspiegeleien eines Mauricio Kagel oder den Paradoxien eines John Cage, die beide die überlieferte Konzertform aufgebrochen haben. Ayres hat sogar einige seiner Orchesterwerke mit „NONcerto“ überschrieben. („Nr. 50“ allerdings nicht.) Doch anders als bei Kagel oder Cage hat man beim Hören nicht den Eindruck einer letztlich doch kohärenten musikalischen Struktur. Wenn es ein kompositorisches Prinzip gibt, so ist es der lustvoll respektlose Umgang mit vorgefundenem akustischem Material – seien es Froschquaken, Mückengesumm oder Spatengeräusche, seien es Stilzitate aus der Musikgeschichte. Vor allem im zweiten Teil, der rückwärts (!) erzählten Reise ins All, sind Anklänge an Richard Wagner, Richard Strauss, Gustav Holst und John Williams unüberhörbar – aber nicht als ein den Hörer einnehmender Klangstrom, sondern als bewusst ausgestellte Klangpartikel, die oft auch noch von ironischen Zwischenbemerkungen auf dem Bildschirm gebrochen werden. Ähnlich bedient sich das Libretto (eingestandenermaßen) bei Dante, William Shakespeare, Giacomo Leopardi, Edgar Alan Poe und anderen Autoren, darüber hinaus bei der in den alltäglichen Nachrichten aufscheinenden Revue globaler Menschheitsprobleme und schließlich bei Allgemeingut gewordenen Bildern – wie der vom Weltall aus zerbrechlich wirkenden Erde.

Im dritten Teil finden wir uns im augenscheinlich verwaisten Garten wieder. Der Gartenbesitzer selbst kommt gar nicht mehr zu Wort, sondern nur noch „ein uraltes Bakterium“, das mit modulationsarmer Grabesstimme in einem Interview das Aussterben der Zweibeiner zu Protokoll gibt. Wenn man die dümmlichen Fragen der Reporterin in Betracht zieht, scheint allerdings die Menschheit teilweise überlebt zu haben. Oder ist es um die Intelligenz der dominierenden Nachfolgespezies auch nicht besser bestellt? Oder es handelt sich um auktoriale Selbstironie in Anlehnung an das schöne Briefzitat von Bertolt Brecht? „Den Schriftsteller interessiert vor allem das Schriftstellern. Auch gegen den Weltuntergang hätte er nichts einzuwenden, wenn er nur sicher wäre, dass sein Buch darüber noch herauskommen kann.“ Und vielleicht ist ja überhaupt Richard Ayres musikalisch-szenische Eulenspiegelei die angemessen rheinisch-karnevalistische Antwort des Mainzer Musiktheaters auf die Schrecken und Absurditäten der Corona-Krise.

Dass das Stück durchaus spezifisch musikalische Reize hat, sei nicht verschwiegen. GMD Hermann Bäumer, stets offen für Neues, hat die wegen der zahlreichen Einspielungen nicht einfach zu realisierende Partitur mit der auf Abstand sitzenden Kammerbesetzung des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz erwartungsgemäß sehr sorgfältig einstudiert. Im Programmheft-Interview hebt er zu Recht die originelle Instrumentation hervor: Ein Streicherklang ohne Bratschen und Celli, eine Bassbesetzung mit Bassklarinette, Fagott, Tuba und Kontrabass, dazu die gelungenen parodistischen Effekte. Und natürlich hat die anspruchsvolle Gesangspartie ihren Reiz. Derrick Ballard kostet lustvoll sämtliche Register und Nuancen seiner tragfähigen Baßstimme aus und begleitet sie mit entsprechender Mimik. Szenisch allerdings hat er kaum etwas zu tun. Stephanie Hiltls szenische Einrichtung stützt sich allzu sehr auf das von Christoph Schödel erstellte Video, und dieses wiederum verlässt sich allzu sehr auf realistische Bilder von Garten, Erde und All und stößt dabei schnell an seine Grenzen. Schon für Wurm oder Wangee findet Schödel nur schwache Effekte. Der Zuschauer rätselt dann im und am Bild herum, anstatt dem klanglich–szenischen Gesamteindruck zu folgen. Sehr viel geschickter und angemessener wäre eine cartoon-artige Videoanimation – vergleichbar derjenigen von Martha Colburn bei der Uraufführung in Amsterdam. Unterhaltsam und hintergründig war der Abend dennoch, und das neugierige, wach gestimmte Publikum hatte Etliches zu lachen.

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