Szene aus Elektra
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Wiener „Elektra“

Welser-Möst und seine „Westtribüne“

Der Stehplatzsektor ist vermutlich so etwas wie das Schöffengericht der Wiener Staatsoper. Bei der zweiten Produktion in der neuen Spielzeit fiel das Urteil recht deutlich aus. Noch vor dem ersten Takt skandierte man Bravo-Chöre für den musikalischen Leiter der dienstägigen „Elektra“, die in der 1989er-Version von Harry Kupfer wiederaufgenommen wurde.

Franz Welser-Möst ist wohl seit seinem Zwist mit Dominique Meyer für manche offenbar der Musikdirektor der Staatsoper schlechthin. Dass nicht er, sondern Philippe Jordan jetzt Musikdirektor wurde, ist für das geneigte Publikum auch Jammern auf höchstem Niveau. Mit der „Elektra“ zeigte Welser-Möst jedenfalls, warum er im Fach Richard Strauss momentan nahezu alleinige Weltspitze ist.

2020 ist nicht nur der Sommer der Pandemie, sondern in Österreich auch jener der „Elektra“. Eigentlich, wie ein Kritiker meinte, ein „Kassengift“, weil sich jedes Opernhaus der Welt schwertut, die eigene „Elektra“ voll zu bekommen. Gerade hat man noch die Psychotherapie von Krzysztof Warlikowsk aus der Salzburger Felsenreitschule im Kopf, mit den furiosen Philharmonikern unter Welser-Möst, da darf man in selber Maestro-Orchester-Aufstellung die Harry-Kupfer-Inszenierung dieser Strauss-Hofmannsthal-Oper aus dem Wendejahr 1989 auf ihre Gegenwartstauglichkeit abklopfen.

Szene aus Elektra mit Ricarda Merbeth
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Ricarda Merbeth als zunächst einsam kämpfende Elektra in einem verkommenen Hofstaat

Und siehe da, man tut sich mit dem modernen Psychogramm Warlikowskis im Gepäck der Erinnerung fast leichter, für die Handschrift Kupfers 2020 Platz zu finden: Kupfer stellt eine mächtige Agamemnonstatue so in den Bühnenraum, dass diese alle Bühnendramaturgie und Zwischentöne auf der Bedeutungsebene zu erdrücken droht. Hier dreht sich alles um archaische Rache gegen eine verkommene Diktatur. Die Frage ist eigentlich nur: wann alles zum Ausbruch kommt.

Rückblick:

So lief die Premiere der „Butterfly“ zur Neustart der Staatsoper. Mehr dazu in news.ORF.at.

Inszenierung im Sinne des Komponisten

Es ist eine Inszenierung ganz im Sinne des Komponisten, denn die Musik treibt das Geschehen schonungslos – und in dem Fall heißt es, dass die Sänger einmal über das furios werkende Orchester drübermüssen. Das fällt gar nicht leicht, nicht einmal der im Laufe des Abends immer stärker werdenden und am Ende zu Recht gefeierten Ricarda Merbeth als Elektra: Sie ist die einsame Generalin, die aufräumen muss mit einem verkommenen Hofstaat, zunächst in der Suche nach Verbündeten, etwa ihrer Schwester Chrysothemis (Camilla Nylund), schließlich im Gefühl, es komplett allein durchziehen zu müssen.

Welser-Möst zurück an der Wiener Staatsoper

In über 200 Vorstellungen und nicht zuletzt als Generalmusikdirektor hat Franz Welser-Möst die Interpretationsgeschichte des Hauses am Ring mitgeschrieben und nachhaltig geprägt. Sechs Jahre lang musste das Publikum der Wiener Staatsoper auf diesen international so bedeutenden und renommierten Dirigenten verzichten. Mit der „Elektra“-Wiederaufnahme am 8. September kehrte er nun bereits am zweiten Tag der Spielzeit zurück an seine ehemalige Wirkungsstätte.

Steckte bei Warlikowski der Konflikt unter der Hülle einer modernen Upperclass-Familie, so sieht das Mykene des Harry Kupfer aus wie die Resterampe der Nibelungen. Das hat auch Folgen für die Wahrnehmung der Musik an diesem Abend: Dort, wo Strauss auf die Motivwelt Wagners zurückgreift, um seine Ausdeutung der Moderne mit einem Airbag auszustatten, blickt und hört man mit Kupfer immer in den Abgrund.

Szene aus Elektra mit Doris Soffel
Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Klytämnestra (Doris Soffel) und die Verkommenheit der Macht. Klarer kann man es auch optisch nicht ausdrücken.

Diese „Elektra“ ist brutal und schonungslos. Da hilft es auch Klytämnestra (Doris Soffel) nichts, dass sie sich in ihrem Perlenbehang kurz um den Hals ihrer Tochter schlingt. Sie will ja von ihren Alpträumen befreit werden – und Elektra sagt ihr schonungslos: Als Kur hilft nur dein Tod.

Franz Welser-Möst am Ende der Elektra vor dem Publikum
ORF.at
Der Maestro am Ende dieser „Elektra“. Kurz steht er ganz allein vor dem Vorhang und seinen Fans

Orest und der zarte Schimmer Hoffnung

Die Rache kommt am Ende schließlich in Gestalt des zunächst nicht erkannten Bruders Orest. Derek Welton ist der Rächer, der aus dem Dunkel kommt. Leicht färbt sich die Finsternis bei Kupfer in ein Blau der Hoffnung, und die Wiedererkennung zwischen Elektra und Orest ist das Schönste, was diese Oper zu bieten hat – und auch die eindringlichste Szene des Abends.

Danach geht alles sehr schnell. Die Taten der Vergangenheit werden gerächt, der alte Hof beiseitegeräumt. Und sosehr Chrysothemis bekanntlich in ihrer Wendigkeit die neuen Zeiten begrüßt, so sehr weiß Elektra, dass ihre Abrechnung keinen Frieden bringen wird.

Der Abend endet hoffnungslos und doch furios – und er ist für knapp zwei Stunden ein Festspiel der Philharmoniker unter Welser-Möst. Klarer, weniger marktschreierisch kommt die „Elektra“ in Wien herüber, was dem Aufführungsort geschuldet ist. War es in der Felsenreitschule vor der Steinwand hell und bombastisch, so verhält sich diese „Elektra“ wie der Turntable zum Abspielen einer CD. Diese Inszenierung hat gerade in der Gegenwart immer noch ihren festen Platz.