Alexander Soddy setzte mit seinem Dirigat der "Salome" neue Maßstäbe an der Wiener Staatsoper.

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Wien – Toxische Weiblichkeit oder "keusche Jungfrau", wie von Richard Strauss gewünscht: Wie würde Vida Miknevičiūtė die Salome bei ihrem Debüt an der Staatsoper wohl anlegen? Das war schnell egal, komplett egal. Beim ihrem Tanz der sieben Schleier schaute man nicht eine Sekunde hin. Nicht, dass die junge Litauerin nicht eine wundervolle Salome gegeben hätte: frisch und keck, trotzig und verspielt. Nicht, dass Miknevičiūtė die Partie der Prophetenmörderin nicht glänzend gesungen hätte: mit einem agilen Sopran aus schlankem Silber; mit Spitzentönen, die wie vibrierende, gleißende Pfeile durch die Gischt der gewaltigen Klangwogen aus dem Orchestergraben flogen.

Aber da war am Freitagabend eben auch dieses Orchester. Und da war Alexander Soddy. Soddys Dirigat war ein Ereignis, wie man es in den letzten Jahrzehnten an diesem Haus nicht erlebt hat. Schon nach wenigen Minuten der Aufführung hielt der Brite alle Fäden in der Hand, und das Staatsopernorchester, es ließ sich willig führen und verschmolz zu einem Kollektivwesen, dass sich binnen Minuten von einer Bestie zur Naturgewalt zur großen Verführerin wandelte. Soddy und das Staatsopernorchester: Das war, wie wenn man Lewis Hamilton mit seinem Formel-1-Auto davon ziehen sieht und gleichzeitig Gustav Klimt im Zeitraffer beim Malen eines Gemäldes erlebt. Rasanz und Feinfühligkeit, Opulenz und delikate Farbzeichnungen wechselten in atemberaubender Folge.

Lust und Kontrolle

Soddy – dieses Genie war vor fünf Jahren noch Chefdirigent am Stadttheater Klagenfurt! – dirigierte keine Melodien, Harmoniefolgen oder Rhythmen, Soddy veranschaulichte Stimmungen, und das auf so exakte, feinfühlige und natürliche Weise wie kein Zweiter. Zu souveräner Werkübersicht und allumfassender Detailkenntnis kam eine ideale Balance aus Herz und Verstand, aus Lust und Kontrolle.

Der 37-Jährige lächelte oft, gab sich im einen Moment relaxed und verschmitzt und explodierte im nächsten. Soddy interpretierte und er kommunizierte die komplexe Partitur von Strauss auf eine atemberaubend selbstverständliche Weise. Als Zuhörer hörte und fühlte man augenblicklich alles, was in der Partitur steht, weil der Dirigent das eben auch tat und mithilfe des hochvirtuosen Orchesters auch ausdrücken konnte. Wer an diesem Abend nicht dabei war, kann sich nicht vorstellen, mit welcher Pracht, Lust und Innigkeit das beste Opernorchester der Welt aufspielte und über sich hinauswuchs. Wahnsinn und Laszivität, Reinheit und Brutalität folgten eng verwoben aufeinander.

Alle Blicke auf das Orchester

Kaum ein anderes Opernhaus würde es schaffen, nach wochenlangen Proben eine Premiere dieser Oper auf diesem Niveau anzubieten – an der Wiener Staatsoper läuft sowas ganz bescheiden unter Repertoirevorstellung (für die man noch genug Karten bekommt). Die legendären Abende mit Carlos Kleiber an diesem Haus können kaum berührender, erhebender, mitreißender gewesen sein.

Gab es einen winzigen Aspekt, den der Orchesterleiter noch optimieren könnte? So hochaufmerksam Soddy auch auf die Sänger hörte (das Orchester war nie zu laut, niemals): Der Generalmusikdirektor des Nationaltheaters Mannheim könnte sie aufmerksamkeitstechnisch noch mehr in seinen Bannkreis miteinbeziehen. Da blieb er mit seinen Blicken doch vorrangig im Orchestergraben verhaftet.

Früher hätte das Publikum nach einer solchen Aufführung eine halbe Stunde applaudiert: tempi passati. Ja: Das Leben ist ungerecht. War es doch ein Abend, für den man sich bei allen Mitwirkenden nicht lange genug bedanken kann. (Stefan Ender, 3.10.2020)