Ein Teller Suppe nach der Apokalypse: «Saint François d’Assise» in Basel

Zu seinem Einstand am Theater Basel hat sich der neue Intendant Benedikt von Peter die Schweizer Erstaufführung
von Olivier Messiaens Heiligenoper vorgenommen. Wärme und Farben gibt es da allein in der Musik.

Georg Rudiger, Basel
Drucken
Ein Heiliger am Ende der Zeit und der Zivilisation: Nathan Berg prägt in der Titelrolle die Basler Neuproduktion von Messiaens «Saint François d’Assise».

Ein Heiliger am Ende der Zeit und der Zivilisation: Nathan Berg prägt in der Titelrolle die Basler Neuproduktion von Messiaens «Saint François d’Assise».

Ingo Hoehn / Theater Basel

Drei Strommasten stehen verloren im Theaterraum. Ein Motorboot ist gestrandet. Der Supermarkt im Hintergrund hat auch schon bessere Tage gesehen. Hier möchte man nicht sein – zwischen all dem Schmutz, zwischen Müllsäcken und leeren Bierdosen. Márton Ágh hat für die Schweizer Erstaufführung von Olivier Messiaens Oper «Saint François d’Assise» am Theater Basel eine Bühnenlandschaft gebaut, die nichts Heimeliges, geschweige denn Heiliges an sich hat.

Stattdessen sieht man Reste von städtischem Leben. Das Schild zum Flughafen ist verbeult, die Stromkabel hängen schlapp, eine Plakatwand besteht nur noch aus Fetzen. Einen dystopischen, postapokalyptischen Raum wünschte sich der neue Intendant Benedikt von Peter für seine Einstandsarbeit am Theater Basel. Dass einzelne Sitze herausgerissen sind und sich auch das Publikum isoliert, war schon Teil des vor zwei Jahren entworfenen Bühnenkonzepts.

Jetzt erfordert die Pandemie ähnliche Massnahmen: für sichere Abstände unter den Zuschauern. Szenisch musste von Peter – tragische Ironie! – trotz Corona-Auflagen nichts verändern. Die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerbereich ist aufgehoben, es gibt keinen Orchestergraben. Zwei Stege führen über die ausgedünnten Sitzreihen. Der auf der Galerie des Bühnenturms postierte Chor singt die Stimme Gottes aus der Ferne – auch das irgendwie sinnfällig, genügend Abstand ist schliesslich das Gebot der Stunde.

Sichtbare Musik

Nur die riesige Orchesterbesetzung, die Olivier Messiaen für seine einzige, 1983 in Paris uraufgeführte Oper fordert, war nicht realisierbar. Innerhalb weniger Monate erstellte deshalb der argentinische Komponist Oscar Strasnoy eine Fassung, die das Orchester auf ein Drittel der ursprünglichen Grösse konzentriert, vor allem bei der Bläserbesetzung. Folglich sitzen nur rund vierzig Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel auf steil emporsteigenden Podesten – davon allein zehn Schlagzeuger, die den reichen Originalpart spielen.

Die für Messiaen typischen Ondes Martenot, ein frühes elektronisches Tasteninstrument, das Vibrato- und Glissando-Effekte ermöglicht, werden durch zwei Moog-Synthesizer und eine Hammondorgel ergänzt. Zu Beginn des knapp vierstündigen, mit nur einer Pause gespielten Abends dominiert die Elektronik bei einigen Passagen zu stark; Messiaen hatte sie vor allem als zusätzliche Farbe verstanden. Aber die Balance bessert sich bald – wie überhaupt die neue Fassung erstaunlich gut funktioniert.

Olivier Messiaen (1908–1992) gehört neben Pierre Boulez zu den herausragenden französischen Komponisten der Generation nach Debussy und Ravel.

Olivier Messiaen (1908–1992) gehört neben Pierre Boulez zu den herausragenden französischen Komponisten der Generation nach Debussy und Ravel.

Imago

Die Streicher entfalten trotz ihrer geringen Besetzung seidigen Glanz. Die Blechbläser verlieren nichts an Prägnanz. Der ständige Wechsel zwischen lyrisch-weichen und nervös akzentuierten Passagen gelingt kontrastscharf. Messiaens charakteristische Akkordschichtungen verbinden sich zu intensiven Farbmischungen. Vor allem aber tut es dem szenisch problematischen Abend gut, dass man die Musik auch sehen kann.

Namentlich die drei extrem geforderten Mallet-Spieler an Marimba, Xylofon und Vibrafon, die ihre synchronen Passagen mit grösster Präzision und Eleganz realisieren, sind ein Blickfang. Und nicht zuletzt liegt es auch am Dirigenten Clemens Heil, dass die Komplexität von Messiaens Musik so gut zu erfassen ist: Der Luzerner Musikdirektor gibt klare Impulse, belebt den Rhythmus und setzt die oft blockhaft isolierten Orchestergruppen bruchlos in Verbindung zueinander.

Obdachlosenmilieu

Dass Benedikt von Peter, der diese Spielzeit noch parallel das Luzerner Theater leitet, beim Start der Basler Opernsaison auf seinen Luzerner Kollegen setzt, zeigt eine Kontinuitätslinie. Und wie in Luzern möchte von Peter auch in Basel das Theater öffnen, möchte Raum schaffen für Begegnungen – wie mit dem «Utopischen Tisch», einem Projekt, das vergangene Woche Künstler und Publikum auf Augenhöhe zusammenbrachte, bei einem Teller Suppe.

Aber auch mit dem Bühnenraum möchte von Peter das Publikum stärker involvieren. Bei Messiaens «Saint François» gelingt das kaum. Dafür sind die Plätze auf der Bühne zu wenige, und es fehlt jede spirituelle Dimension. Die allmähliche innere Erleuchtung des Heiligen, die Messiaen in acht grossen Szenen darstellte, wird heruntergebrochen auf eine freudlose Geschichte im Obdachlosenmilieu.

Dass der sieche Franziskus plötzlich in den Supermarkt sprintet, um eine Drehleiter zu holen, oder dass der von Messiaen musikalisch entrückte Engel von der Regie keinerlei Alleinstellungsmerkmal bekommt, zeigt den von wenig Sensibilität geprägten Umgang mit der Vorlage. Glücklicherweise schafft es Nathan Berg durch seine stimmliche Qualität und seine darstellerische Präsenz, diesem seltsam heruntergekommenen Franziskus Konturen zu verleihen: Er zeigt ihn als echten Schmerzensmann, dem jedes Lachen aus dem schmutzigen Gesicht geschwunden ist.

Der Engel (Alfheidur Erla Gudmundsdottir) tröstet Franziskus (Nathan Berg), als er die Stigmata empfangen hat.

Der Engel (Alfheidur Erla Gudmundsdottir) tröstet Franziskus (Nathan Berg), als er die Stigmata empfangen hat.

Ingo Hoehn / Theater Basel

Die Wärme, die von der Regie verweigert wird, liegt in Bergs Stimme, wenn er im sechsten Bild die Vogelstimmen aus dem Orchester heraufbeschwört und zuvor, im dritten Bild, den Leprakranken mit lyrischen Linien heilt. Rolf Romei singt ihn mit kraftvollem, hell leuchtendem Tenor, der die existenziellen Schmerzensschreie schärft. Die Mönche sind in Benedikt von Peters Inszenierung heruntergekommene Saufbrüder. Paul Curievici verleiht Bruder Massée mit seinem berührenden Tenor dennoch Sehnsucht nach etwas Höherem. Jason Cox ist ein sonorer Bruder Léon, Bruder Elie (Karl-Heinz Brandt) fährt Fahrrad, Bruder Bernard (Andrew Murphy) schiebt gerne einen Einkaufswagen, wenn er nicht gerade mit einem platten Fussball Papiervögel von der Hochspannungsleitung schiesst.

Mitten in diesem trostlosen Ambiente kann Alfheidur Erla Gudmundsdottir mit ihrem schlackenlosen Sopran und wunderbarem Legato zumindest musikalisch ein wenig Licht verbreiten – die Tomatensuppe, die sie auf ihrem Gaskocher erwärmt, vermag dies nicht. Am Ende fällt Franziskus tot um und landet kopfüber in einem Müllsack. Der von Michael Clark gut einstudierte, höhensichere Chor singt dazu ein schwebendes, leises, leuchtendes Halleluja.

Sie können unserer Musikberichterstattung auf Twitter folgen.