Opern-Kritik: Staatsoper Hannover – Carmen

Carmens Töchterchen

(Hannover, 24.10.2020) Zwischen Musical, Revue und Performance verlegt Barbora Horáková Bizets Evergreen in die Jugendkultur der Gegenwart, ersetzt damit alte Klischees durch neue.

© Sandra Then

Szene aus Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Hannover

Szene aus Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Hannover

Wir wähnen uns in der „West Side Story“. Denn Bühnenbildner Thilo Ulrich hat den Unort des Irgendwo einer Vorstadt für die neue „Carmen“ der Staatsoper Hannover ersonnen. Das imposante Stahlgestänge könnten die rückwärtigen Reste eines Stadions sein, in dem der Torero Escamillo einst die Massen in seinen Bann zog. Der urinsteif stinkende, mit Zigarettenqualm erträglich gemachte Odem einer postindustriellen Tristesse scheint über diesen düsteren Bezirk zu wehen. Längst ist diese Gegend als gesellschaftlicher Ort verlassen. Die Gegenwelt einer enttäuschten Jugend hat jetzt hier das Sagen. Konkurrierende Gangs ziehen einander die Jacken ab. Die abgehängte junge Generation setzt sich hier im Street Dance in Szene, der erotisch aufgeladen seinen emanzipatorischen Impetus verströmt. Neue Grenzen werden gesetzt, probiert und verschoben. Denn die Moral der Mehrheitsspießer gilt hier draußen nicht mehr. Im Gesetz der Straße gelten eigene, ungeschriebene Regeln.

Carmens Lebensentwurf kennt kein Gestern und kein Morgen

Die Selbstbehauptung einer Kultur der Anderen wird also hier praktiziert. Dieser Lebensentwurf kennt kein Gestern und kein Morgen – man lebt allein im Jetzt, fragt nicht nach den Konsequenzen des eigenen Handelns. Auch ein Mord kann hier schon mal passieren, wenn ein Mann mit bürgerlichem Hintergrund sich hierher verirrt und in ein minderjähriges Mädel der Szene verliebt, die ihn vor die Entscheidung stellt, in die Welt der Illegalität einzutreten oder in jene der Angepassten zurückzukehren. Don José (mit tenoralem Stamina punktend: Rodrigo Porras Garulo) entscheidet sich für die Eroberung der begehrenswerten und begehrten anderen Frau namens Carmen und die andere Welt mit ihren ganz neuen Freiheitsversprechen. Als ihm sein Vorgesetzter Zuniga in die Quere kommt, knallt er ihn mit dessen eigener Waffe ab. Frasquita und Mercedes entsorgen die Leiche mittels einer Plastikplane. „Calixto Bieito light“ könnte man solche Zutaten aus der mittlerweile schon etwas angestaubten Kiste des Regietheaters nennen, Barbora Horáková stand dem Katalanen, der die Körpersäfte gern realitätsnah bühnenspritzen lässt, zu Beginn ihrer Karriere als Assistentin zur Seite. Just hier in Hannover sorgte Bieito vor 20 Jahren für Sensationskandale – zumal mit seiner brutal aufgerauten Deutung von Verdis „Il Trovatore“.

Ein die Physis der Darsteller forderndes und feierndes Musiktheater

© Sandra Then

Szene aus Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Hannover

Szene aus Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Hannover

Derlei krasse Intentionen der Zuspitzung verfolgt Barbora Horáková nicht. Sie geht vielmehr mit geradezu leichter Hand ans Bizet-Werk, sorgt sehr wohl für ein die Physis der Darsteller forderndes und feierndes Musiktheater. Statt des pandemiebedingt gestrichenen Chores lässt sie eine sechsköpfige Tanztruppe auftreten, die das Kolorit des Abends beisteuert – freilich fernab aller Exotikbegeisterung des 19. Jahrhunderts für Carmens klischeekonforme wie passionspralle Zigeunerkultur. An deren Stelle sucht Horáková eine Street Credibility zu setzen, die – wie bereits das Bühnenbild – an Leonard Bernsteins Musical-Klassiker „West Side Story“ erinnert. So wird indes nicht nur Modernität und heutiger Realismus herzustellen gesucht, die einst an der Pariser Opera comique uraufgeführte „Carmen“ erhält etwas Revuehaftes und Operettiges, zudem immer wieder auch Performatives.

Das coronakompatibel minimierte Orchesterarrangement gerät dürr statt schwärmerisch

Zu dieser Heterogenität trägt auch die musikalische Fassung von Marius Felix Lange bei. Der 1968 geborene Komponist hat nicht nur ein gleichsam coronakompatibel minimiertes Orchesterarrangement erarbeitet (mit je nur drei ersten und drei zweiten Violinen sowie einfach besetzten Bläsern), er hat auch sanfte Verfremdungseffekte und Kürzungen vorgenommen, Gesangsnummern ineinander übergehen lassen, mitunter ironisierende Kommentare eingebaut. Der Abend ist so auf zwei pausenlose Stunden eingedampft, er gewinnt an geradezu filmisch schnellen Schnitten. Und er tilgt das Folkloristische und Schwärmerische der Partitur zugunsten einer neue Härte des musikalischen Erzählens und Kommentierens, die dank der ausgedünnt dürren Instrumentierung entsteht und von Generalmusikdirektor Stephan Zilias und dem Niedersächsischen Staatsorchester Hannover in unsentimentaler Knalligkeit noch schärfend betont wird, was die Sänger mitunter zum veristischen Forcieren nötigt.

Atemlos, kaum berührend

© Sandra Then

Szene aus Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Hannover

Szene aus Bizets Oper „Carmen“ am Staatstheater Hannover

So bunt, so körperbetont und so atemlos diese „Carmen“ also an uns vorbeirauscht, ohne uns dabei wirklich zu berühren, so selten keimt in den wenigen poetischen Momenten das Utopiepotenzial des Gelingenkönnens von Beziehungen auf. Die Wiederbegegnung von Micaëla (Barno Ismatullaeva mit der schönsten, traumhaft soprangerundet aufblühenden Stimme des Abends) und Don José gehört dazu, in der die Möglichkeit einer Rettung des Carmen verfallenen Mannes als Rückkehr in den Schoß der mütterlich-bürgerlichen Ordnung diskutiert wird. Einiges Regie-Feingefühl beweist Barbora Horáková auch in den Auseinandersetzungen zwischen Carmen und Don José, wenn diese etwas andere Femme fatale vor seiner Blumenarie für ihn tanzt, eine Orange über seinem Kopf ausquetscht und dann – als sexuelles Versprechen – auf ihn fallen lässt.

Die Teenie-Carmen

Segen und Fluch der gesamten Neudeutung des Stücks zugleich aber ist die Zeichnung der Titelfigur. Denn Barbora Horáková zeigt uns die Russin Evgenia Asanova (mit ihrem noch sehr jungen Mezzo girrt sie bereits trefflich) in den Kostümen von Eva-Maria Van Acker als Kindfrau, gleichsam als kleine Schwester der Lulu, die ihre Freiheitsforderung geradezu pubertär und vorbewusst im unreflektiert dauererregten Schwindel des Moments herausruft. Ein trotziges Mädel im bauchfreien Top will man diesen Kerl, mal einen anderen, mal den netten José, mal den schicken, ihr sozialen Aufstieg versprechenden Escamillo (souverän baritonviril: Germán Olvera). Der tragische Fatalismus der Figur, der sie am Ende zwingend in den Tod treibt, aber bleibt in dieser Zeichnung der Protagonistin unplausibel. Diese Teenie-Carmen, die eher dem Töchterchen der Femme fatale gleicht als einer Verkörperung der Verführerin, würde sich den Fängen des narzisstisch gekränkten José problemlos entziehen und wendig in die Arme eines Anderen retten. Und: Verfängt sich die Regie in ihrer konsequenten Vermeidung der alten Klischees des Stücks nicht in neuen Klischees? Die farbige Zeichnung einer aktuellen Jugendkultur gerät denn doch deutlich dekorativ und nur bedingt authentisch.

Staatsoper Hannover
Bizet: Carmen

Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie), Thilo Ulrich (Bühne), Eva-Maria Van Acker (Kostüme), James Rosenthal (Choreografie), Sascha Zauner (Licht), Sergio Verde (Video), Evgenia Asanova, Rodrigo Porras Garulo, Barno Ismatullaeva, Germán Olvera, Mercedes Arcuri, Nina van Essen, Yannick Spanier, Niedersächsisches Staatsorchesters Hannover

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