Es grüsst die schöne neue Welt – letzte Opern in München und Stuttgart

Wenn die Kunst zum Schweigen verdonnert wird, verstummt rasch auch die kritische Reflexion des Zeitgeschehens. Bei zwei Produktionen, die unmittelbar vor dem erneuten Kultur-Aus noch auf die Bühne kamen, kann man dies jetzt hautnah miterleben.

Marco Frei, Stuttgart/München
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Dystopische Visionen zu Gustav Mahlers «Lied von der Erde» in einer Bühnenfassung von David Hermann an der Staatsoper Stuttgart.

Dystopische Visionen zu Gustav Mahlers «Lied von der Erde» in einer Bühnenfassung von David Hermann an der Staatsoper Stuttgart.

Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart

Schon die alten Griechen wussten, dass eine Gesellschaft ohne geistigen und künstlerischen Diskurs zu sterben droht. Diese frühe Erkenntnis sollte eigentlich gerade in Krisenzeiten präsent sein. Manche Äusserungen dieser Tage aus politischen Kreisen offenbaren indes das Gegenteil. Auch aus der «Kulturnation Deutschland» ist gegenwärtig manch skurrile, wenn nicht gar verräterische Einlassung zu vernehmen.

Da wurde in Berlin Mitte der vergangenen Woche, wie fast zeitgleich in Bern, zu einer Pressekonferenz geladen, auf der Bund und Länder für den November strengere Corona-Massnahmen verkündeten. Von der Bundeskanzlerin Angela Merkel war zu hören, dass auch «Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen», vorerst nicht stattfinden könnten. Ob sie damit auch die klassischen Künste meinte, blieb ein wenig in der Schwebe, aber inzwischen ist klar: Auch alle Theater, Opernhäuser und Konzertsäle sind von dem «Lockdown light» betroffen.

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, der sich in Deutschland als rabiatester Corona-Bekämpfer (und potenzieller Kanzler) profilieren will, formulierte es spitzer: Für Spass und Freude sei jetzt nicht die richtige Zeit, behauptete er in einem Interview – als ob Kunst und Kultur einzig diese Funktion erfüllten. Die beiden vorerst letzten Musiktheater-Premieren in München und Stuttgart zeigten eindrücklich, dass gerade jetzt die richtige Zeit für Kunst und Kultur ist.

Davor und danach

Zwei starke Konzepte wurden da geboren, erschütternd aktuell und dringlich. Mit dem Zweiakter «Die Vögel» von Walter Braunfels, einem «lyrisch-phantastischen Spiel» nach der gleichnamigen Komödie des Aristophanes, wurde der Uraufführung des Werks vor hundert Jahren am Münchner Nationaltheater gedacht, mit Ingo Metzmacher am Pult. Die Produktion soll als Video-on-Demand auch nach der inzwischen erfolgten Schliessung des Hauses weiterhin zu sehen sein.

An der Staatsoper Stuttgart kam man hingegen auf die Idee, unter der Leitung von Cornelius Meister den Prosatext «Die Bienenkönige» der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek mit Gustav Mahlers «Lied von der Erde» zu koppeln. Was die beiden Projekte eint, sind die ziemlich abgründigen Visionen von einer Welt «danach».

Klamauk mit Gefieder: Szene aus der Oper «Die Vögel» in der Inszenierung von Frank Castorf an der Bayerischen Staatsoper.

Klamauk mit Gefieder: Szene aus der Oper «Die Vögel» in der Inszenierung von Frank Castorf an der Bayerischen Staatsoper.

In seiner Komödie «Ornithes» von 414 v. Chr. entwirft Aristophanes einen Vogelstaat: Zwei Menschen (Michael Nagy und Charles Workman), bei Braunfels «Ratefreund» und «Hoffegut» genannt, möchten den irdischen Kümmernissen entfliehen. Im Wiedhopf von Günter Papendell, dem König der Vögel, finden sie einen Mitstreiter. Der neue Vogelstaat entsteht, doch bald warnt Prometheus, gesungen von Wolfgang Koch, vor dem Zorn des Zeus – vergebens. Das Luftreich verpufft am Ende der Oper jäh im Grössenwahn.

Bei Braunfels mutieren die zwei Menschen zusehends zu machthungrigen Blendern, und das erscheint rückblickend fast schon als eine prophetische Zeitkritik. Als die Oper 1920 in München uraufgeführt wurde, waren die Trümmer des Ersten Weltkriegs noch nicht beseitigt. Gleichzeitig begann die braune Bewegung in Deutschland zu erstarken. In Nazi-Deutschland wurde Braunfels als sogenannter «Halbjude» verfolgt, seine Werke galten als «entartet».

Dagegen zeichnet Elfriede Jelinek in ihrem Text «Die Bienenkönige» von 1976 eine hochtechnisierte Zivilisation, die an ihrem ausbeuterischen Patriarchalismus zugrunde geht. Nach einer Atomkatastrophe wird die Erde von den Computern der Bienenkönige beherrscht. Das Volk besteht aus Frauen, die entweder unfruchtbar sind oder nur männliche Nachkommen zur Welt bringen. Sie sind «Hetären» oder «Gebärmaschinen». Ein Serum macht sie unsterblich, und ihre Nachkommen haben als sterbliche Sklaven zu dienen.

Pseudoironischer Klamauk

Es sind schauerlich «schöne neue Welten», die da in Stuttgart und München aufgezeigt werden; allein die Umsetzungen schwächeln. In München galt das für die Inszenierung von Frank Castorf. Der 69 Jahre alte Ostberliner möchte den Stoff der «Vögel» einmal mehr ironisch brechen, um einzig mit Versatzstücken seiner eigenen Regieästhetik zu jonglieren. Inmitten der Hinterhof-Szenerie von Aleksander Denić lässt die Ausstatterin Adriana Braga Peretzki kunterbunte Vögelchen umherschwirren: allen voran die wunderbare Caroline Wettergreen als Nachtigall.

Bald schon wird der Horrorfilm-Klassiker «Die Vögel» von Alfred Hitchcock herbeizitiert. Erst als Ratefreund und Hoffegut in SS-Nazi-Uniformen durch den Vogelstaat stampfen, bekommt man eine Ahnung von der irritierend aktuellen Prophetie der Braunfels-Oper. Sonst aber bleibt es bei nichtssagendem, pseudoironischem Klamauk. Die Chance, das Sinnbildhafte des Stücks bis in die Jetztzeit weiterzudenken, wurde in München vertan, weil mit einem Regisseur gearbeitet wurde, der offenkundig nur noch sich selbst zelebriert und konserviert. Schade um die musikalisch starken Leistungen!

In Stuttgart agiert der Regisseur David Hermann weitaus sinnstiftender und vor allem atmosphärisch dichter. Auf der endzeitlich kargen Bühne von Jo Schramm streifen Simone Schneider, Evelyn Herlitzius, Thomas Blondelle und Martin Gantner quasi als Überlebende eines finalen Super-GAU umher. Mit Mahlers «Lied von der Erde» – hier in der Kammerfassung von Rainer Riehn nach dem Entwurf von Arnold Schönberg – besingen sie ihren eigenen, weltentrückten Abschied.

«Knockdown»

Zuvor führt die Schauspielerin Katja Bürkle durch diese Endzeit-Welt. Aus Jelineks Prosatext lässt sie ein monologisches Drama entstehen, das musikalischer im Duktus und intensiver in der Darstellung nicht sein könnte. Die Spannung bricht nie ein, bis zum allerletzten Wort: wahrlich grosses, bleibendes Sprechtheater. In den stärksten Momenten der Produktionen in Stuttgart und München offenbarte sich, wie sehr die Kunst eben doch «systemrelevant» ist. Mit dem ungerechtfertigten neuerlichen Lockdown für die Live-Kultur, den Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, kürzlich treffender einen «Knockdown» nannte, ist Deutschland dabei, die hohe Qualität seines reichen Kulturlebens jäh zu verspielen.

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