Ein glanzvoller Abend mit einem begeisterten Publikum hätte dieser Abend werden sollen; denn auch wenn Piotr Beczała den Werther in Massenets gleichnamiger Oper bereits rund um die Welt gesungen hat, wäre es doch das erste Mal gewesen, dass das Staatsoper-Publikum ihn in dieser Rolle erleben hätte können. Als Trostpflaster wurde vom Staatsoperndirektor ein Livestream auf die Beine gestellt, Publikumsliebling Beczała konnte sein Wiener Werther-Debüt daher doch noch absolvieren. Unter normalen Umständen wäre das Publikum angesichts des gebotenen Opernabends wohl in Begeisterung und tosenden Applaus ausgebrochen.

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Gaëlle Arquez (Charlotte) und Piotr Beczała (Werther)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Jules Massenets Werther bietet für einen Tenor ein Gustostück nach dem anderen und Piotr Beczała konnte vom ersten Auftritt an seine Stärken ausspielen. Mit eleganter Stimmführung lotst er seinen Tenor durch die Partie, besticht mit bombensicherer Technik, freien Höhen und intelligenter Gestaltung. Das tenorale Highlight des Abends – „Pourquoi me reveiller” – erstrahlte in einer Palette an Klangfarben und bot eine ideale Kombination aus Kraft und Gefühl. Mir persönlich gefällt Beczałas Stimme jedoch etwas besser in Rollen des slawischen oder deutschen Repertoires, für das französische Fach würde ich mir noch etwas mehr schmelzende Grandezza wünschen.

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Daniela Fally (Sophie) und Gaëlle Arquez (Charlotte)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Ebenfalls ihr Wiener Debüt als Charlotte gab Gaëlle Arquez, deren Mezzo in allen Lagen ebenmäßig fließt und die Ohren umschmeichelt wie fruchtiger Rotwein den Gaumen. Charlottes große Szene gestaltete sie mit melancholischen Farben in der Stimme und schuf raumgreifende Klangbögen, mit denen sie die widerstreitenden Gefühle des Charakters verdeutlichte. Darstellerisch hätten sowohl Arquez als auch Beczała vor allem in ihren gemeinsamen Szenen allerdings durchaus noch Luft nach oben gehabt. Sie schafften es nicht zu hundert Prozent, dieses sowohl frisch und leidenschaftlich als auch heimlich verliebte Paar zu verkörpern, die Interaktion wirkte immer etwas halbgar und vorsichtig. Stimmlich harmonierten die beiden dafür ausgezeichnet: Im Duett des dritten Akts kochten die vokalen Emotionen hoch und in der Sterbeszene verbanden sich die Stimmen noch ein letztes Mal zu berückender Schönheit.

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Gaëlle Arquez (Charlotte) und Clemens Unterreiner (Albert)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Daniela Fally hat bereits jahrelange Erfahrung in der Rolle der Sophie, gab sie doch schon für fünf verschiedene Interpretinnen der Charlotte die „kleine Schwester“. Die Stimme klingt immer noch jugendlich frisch, die Höhe sitzt klar und klangschön und die sympathische Interpretation der Rolle spiegelte sich auch in der Darstellung wider. Clemens Unterreiner bot als Albert wie gewohnt viel schauspielerisches Pathos, obwohl er es eigentlich gar nicht nötig hätte, durch übertriebene Gestik von seinem sonoren Bariton abzulenken. Die kleineren Rollen waren solide besetzt; positiv fiel insbesondere der homogen und weich klingende Kinderchor auf, der das Bühnenbild auch gleich mit Leben füllte. Die Inszenierung von Andrei Serban bietet mit dem überdimensionalen Baum im Zentrum des Geschehens eine sehr wörtliche Interpretation der Naturbegeisterung der Sturm-und-Drang-Epoche, ist ansonsten aber relativ unspektakulär. Die Handlung verlegt der Regisseur in die 50er-Jahre; der Raum vor dem Baum muss als Garten des Bailli, Ballsaal, Wohnzimmer und Schlafzimmer herhalten. Als problematisch für die Übertragung erweist sich jedoch vor allem die spärliche Beleuchtung, die für sehr dunkle Bilder und im Schwarz verschwindende Protagonisten sorgt.

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Piotr Beczała (Werther) und Gaëlle Arquez (Charlotte)
© Michael Pöhn | Wiener Staatsoper GmbH

Unter der Leitung von Bertrand de Billy lief das ohnehin immer auf hohem Niveau spielende Staatsopernorchester zur Höchstform auf. Wie schicksalshaft und melancholisch bereits in der Ouvertüre Hörner und Streicher das tragische Ende vorausahnen ließen, war purer Genuss. Die Klangfarben der aufkeimenden Gefühle zwischen Werther und Charlotte im ersten Akt gestalteten die Musiker differenziert und zart; Hoffen und Verlangen malten sie in einem Mix aus Melancholie und Glückseligkeit in die leere Staatsoper. In der weihnachtlichen Begegnung des verhinderten Paares im dritten Akt wallte schließlich der Orchesterklang ebenso leidenschaftlich auf, wie die Herzen der Figuren. Im vierten Akt schien die Luft schließlich zum Zerreißen gespannt, das Orchester schuf eine ebenso schöne wie bedrückende Stimmung. Kein Husten und kein Applaus unterbrachen außerdem an diesem Abend die Dramatik der Todesszene; schlussendlich starb Werther so, wie von Goethe und Massenet intendiert – einsam und still.

Die Vorstellung wurde vom Livestream der Wiener Staatsoper rezensiert.

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