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Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda und Bo Skovhus als Ryuji Tsukazaki. Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda und Bo Skovhus als Ryuji Tsukazaki. Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
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Wien zwischen Tiber und verratenem Meer – Henze-Oper im Stream

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Die jüngste echte Premiere der Wiener Staatsoper war nur in der Wiener Staatsoper echt. Und im weltweiten Netz. Erstmals strömte „Das verratene Meer“ von Hans Werner Henze durchs renommierte Haus am Ring.

Die Alpenrepublik macht dicht und die Staatsoper des Landes öffnet sich. Wo nicht gereist werden kann, bleibt nur das Internet. Was möglicherweise zur Folge hat, dass die Premiere von Hans Werner Henzes Oper „Das verratene Meer“ nun von mehr Menschen verfolgt worden ist, als das renommierte Opernhaus Plätze hat.

Zum eigentlichen Premierentag gab es aber erst einmal Hauskost: Puccinis „Tosca“ in einer zwar etwas altbackenen Inszenierung von Margarethe Wallmann, aber mit dem Wiener Titelrollendebüt von Anna Netrebko. Diese Partie hat sie just ein Jahr zuvor an der Mailänder Scala erfolgreich gesungen, schon da – wie nun auch in Wien – mit ihrem Sängergatten Yusif Eyvazov als Maler Cavaradossi. Beide hinterließen viel Eindruck sowohl im wenig expressiven Spiel, das dadurch emotional nur umso glaubhafter geriet, als auch im vokalen Ausdruck, soweit das in diesem Medium authentisch zu bewerten ist. Zumal La Netrebko in diesem Jahr ja selbst von einer Lungenentzündung betroffen war, hätte man ihre wiedergefundene Stimme gern in den heiligen Hallen erlebt – das Timbre wirkte in der Übertragung jedenfalls makellos und üppig.

Die musikalische Balance im leeren Opernhaus lag bei Bertrand de Billy in besten Händen, er kostete mit dem Orchester und den Sängerdarstellern aus, was an blumiger Pracht in der Partitur steckt, schälte aber vor allem die dramatischen Momente heraus, so dass auch diese Bildschirm-„Tosca“ zu einem Ereignis geriet.

Ganz andere Erwartungen waren am Folgeabend mit Hans Werner Henzes vor genau dreißig Jahren in der Deutschen Oper Berlin uraufgeführtem Zweiakter „Das verratene Meer“ verbunden. Denn im schwierigen Fahrwasser des Jahres 2020 konnte das Team um die Dirigentin Simone Young und das Regiedoppel Jossi Wieler und Sergio Morabito (inzwischen auch als Chefdramaturg in Wien tätig) das Drama tatsächlich zu Ende probieren. Nur durfte die Premiere dann nicht vor Publikum realisiert werden, sondern ist als Feierstunde für den großen Altmeister aus Gütersloh, der im Herbst 2012 in Dresden verstarb, ins weltweite Netz verlegt worden.

Hans Werner Henze hat „Das verratene Meer“ gemeinsam mit seinem Librettisten Hans-Ulrich Treichel auf der Grundlage des Romans „Gogo no Eiko“ („Der Seemann, der die See verriet“) von Yukio Mishima geschaffen. Das Resultat ist im Grunde genommen ein Kammerspiel mit nur einer Sängerin und sechs Herren, ein Kammerspiel allerdings, das auf einem mächtigen Klangapparat fußt. Henze hat höchst stimmungsvoll orchestrale Farben entstehen lassen, indem er auf gewaltige Bläser- und vor allem Schlagwerkbesetzungen baut, letztere auch mit chinesischem Gong sowie einer riesigen O-Daiko-Trommel. Darüber hinaus gibt es elektronische Einspielungen von Möwengeschrei bis hin zu Maschinengeräuschen.

Keine Seefahrt, aber Seelenschluchten

Das alles, um eindrucksvolle Hafen- und Hochseestimmung zu zaubern, obwohl der dem Original den Titel gebende Seemann gar nicht aufs Wasser wollte. Denn er habe den Beruf nicht gewählt, weil er das Meer liebte, sondern weil er das Land hasste. Dort aber verliebt er sich in eine alleinstehende Mutter, gibt die Seefahrt auf und heiratet sie. – Happy End?

Nicht bei Henze und Treichel, denn hier werden Abgründe geöffnet, Seelenschluchten, die exemplarisch für irreparabel gestörte Verhältnisse stehen. Der 15jährige Sohn der schönen Mutter verfolgt nicht nur eifersüchtig deren Liebe zum fremden Mann, sondern gehört als „Nummer 3“ auch einer demagogisch brutalen Jugendbande an. Da soll aus dem gewesenen Seemann wieder ein „Held“ gemacht werden. Knaben, die Helden suchen, werden zu Mördern. In der Schlussszene wird der Mann kaltblütig erschlagen.

Simone Young, die sich zum ersten Mal mit dieser Henze-Oper befasst hat, steuerte den Orchesterapparat durch herausfordernde Wogen, mit hoher Präzision und einem wachen Sinn für Dramatik brachte sie das gut zweistündige Unternehmen in den sprichwörtlich sicheren Hafen. Mit Vera-Lotte Boecker als Mutter Fusako, Bo Skovhus als Seemann Ryuji Tsukazaki und Josh Lovell als den eifersüchtigen Sohn Noburo ist ein phänomenales Trio für die Hauptpartien gefunden worden, mit überzeugender Gestaltungskraft, exzentrischem Sprechgesang und schonungsloser Hingabe in die Partien. Hinter diesem Triumvirat müssen sich die weiteren Bandenmitglieder Erik Van Heyningen, Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler überhaupt nicht verstecken, denn auch sie werden Henzes hohem Anspruch bestens gerecht, der hier vom Countertenor bis zum tiefen Bariton mehr auf zerrissene Vielfalt denn auf Ausgewogenheiten gesetzt hat.

Im spartanischen Bühnenbild von Anna Viebrock haben Jossi Wieler und Sergio Morabito das Kammerspiel schier auf den Punkt gebracht, durchweg mit fesselnder Spannung, aber gleichzeitig auch in einem fragilen Schwebezustand, wie er über den Untiefen des Meeres ebenso reizvoll wie riskant sein kann.

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