Theater:Das Kreuz mit der Verwandtschaft

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Judith Spießer als reiche Erbin Julia de Weert im "Vetter aus Dingsda" am Gärtnerplatztheater, mit endlosem Pool und großer Sehnsucht. (Foto: Christian Pogo Zach)

Premieren im Netz: Das Landestheater Niederbayern streamt seine "Madama Butterfly", das Staatstheater am Gärtnerplatz Eduard Künnekes Operette "Der Vetter aus Dingsda"

Von Egbert Tholl

Eine ganz lustige Sache an Streams ist die, dass man dort oft von Intendanten begrüßt wird, bevor es los geht. Neben dem üblichen Netz-Voyeurismus - ah, so schaut bei dem das Büro aus - kann man so ein bisschen seine Neugierde bezüglich der Verfasstheit des Leitungspersonals befriedigen. Josef E. Köpplinger etwa verbreitet in seinem Büro durchaus gute Laune und plaudert in der Pause mit an der Produktion Beteiligten, vor allem über die Frage, ob es stimme, dass die Operette das am schwierigsten zu bedienende Bühnengenre sei. Stefan Tilch, Intendant des Landestheaters Niederbayern, sitzt am Tresen des "Madama Butterfly"-Bühnenbilds und erweckt nicht unbedingt den Eindruck, als müsse man derzeit Menschen, die ein Theater leiten, beneiden. Wobei bei ihm zu den herrschenden Einschränkungen noch der zermürbende Kampf um die dringend notwendige Renovierung des Landshuter Stadttheaters hinzukommt; das steckt man alles nicht so leicht weg. Dabei kann er stolz sein.

Denn für die Stream-Premiere von Puccinis "Madama Butterfly" - kostenlos, versehen mit einem Spendenaufruf für die Renovierung und über die Homepage länger verfügbar - erdachte sich sein Haus eine Lösung, die einen ganz eigenen ästhetischen Diskurs aufmacht. Basil H. E. Coleman erschuf eine musikalische Fassung für zwei Flügel und einige Keyboards, gespielt von ihm selbst, Kyung A Jung und Bernd Meyer. Da muss man nicht mehr, was derzeit ohnehin ein bisschen snobistisch ist, hadern mit reduzierten Orchesterfassungen, das ist von vornherein etwas anderes. Die Keyboards imitieren manchmal die Streicher, die beiden Flügel liefern donnernd Emotion, und Puccinis Motivgeflecht wird durchscheinend klar.

Das Regieduo Amir Hosseinpour und Jonathan Lunn erzählt die Geschichte als Erinnerung von Butterflys Sohn, den der treulose Lover Pinkerton drei Jahre nach dessen Geburt abholt, was Butterfly in den Selbstmord treibt. Der Sohn lebt nun in New York, hat eine Bar, die den Namen der Mutter trägt und rezitiert ein wenig ausufernd Rilke, aus dem "Stundenbuch". Er sucht halt nach Worten, auf Englisch, was bei Rilke ein wenig irritierend wirkt. Der Tänzer und opernerfahrene Schauspieler Uli Kirsch gibt ihm Gestalt, er steuert die Gefühle und ein bisschen das Bühnengeschehen, Suzuki, die praktische und prächtige Reinhild Buchmayer, arbeitet bei ihm an der Bar, und im Hintergrund liefern Videos New York-Atmosphäre, aber auch Fotos von Nobuyoshi Araki, von Frauen, physisch so gefesselt wie Butterfly psychisch. Yitian Luan schafft am Ende ein kleines Wunder der Rührung, Jeffrey Nardone steht als Pinkerton mit schlechtem Gewissen daneben. Alles wird klar und kompromisslos erzählt, Nebenfiguren wie die lärmende Verwandtschaft fallen den Coronaauflagen zum Opfer.

Am Gärtnerplatztheater dreht sich indes alles um Verwandtschaft. Der größte Hit aus Eduard Künnekes Song-Revue-Operette "Der Vetter aus Dingsda" lautet "Onkel und Tante, ja, das sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht", der kommt hier mehrfach, aber nicht allein, die Ohrwürmer kriegt man kaum aus dem Schädel raus. Künneke schrieb die Operette 1921, die beiden Textdichter Herman Haller und Rideamus flohen später vor den Nazis, Künneke trat in die NSDAP ein, und 1934 kam die Verfilmung des Ulks in die reichsdeutschen Kinos. Im Pausengespräch weißt Maximilian Mayer, prachtvoller Darsteller des falschen, erhofften und letztlich glücklichen Liebhabers - die Handlung ist ein einziger kontrollierter Wirrwarr - darauf hin, dass er mit mancher Songzeile arge Probleme habe. Aber er singt sie: "Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken, küss mich und alles ist gut. Musst dir nicht unnütz das Köpfchen verrenken, weil sonst weh es dir tut. Lieb mich nur, weil du mich liebst!" Aber Mayer sagt auch, dranbleiben, der zweite Teil lohne sich. Stimmt.

Bis zur Pause schleppt sich Lukas Wacherings von Karl Fehringer, Judith Leikauf und Dagmar Morell als kunterbunter Pop-up-Sechziger-Jahre-Traum ausgestattete Inszenierung ein wenig lendenlahm dahin, um dann in besten, haltlosen Irrsinn zu münden. Judith Spießer und Julia Sturzlbaum singen, tanzen und spielen befreit von allen Zwängen, Andreas Kowalewitz dirigiert wunderschönen Salonorchester-Popsound. Dazu passen am besten mehrere Flaschen halbtrockenen Rieslings, so macht dann die Streamerei zu Hause Spaß. An Silvester gibt es dann "Drei Männer im Schnee".

© SZ vom 19.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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