Ein buntes und also gefiedertes Stelldichein im Theater an der Wien.

Werner Kmetitsch

War das nicht ein wundervoller Mittwoch? Zuerst der unerwartete Besuch eines seltenen Gastes, des Licht- und Wärmespenders Sonne. Und dann endlich einmal wieder Oper. Also so richtig: nicht am Flachbildschirm, sondern in einem weiten, schönen Raum, mit Orchester und Sängern, die diesen Raum bis in den letzten Winkel klingend und singend erfüllen, und mit einem dreidimensionalen szenischen Geschehen. Es war irre schön. So muss es sein, wenn man nach wochenlanger Abstinenz einen erstklassigen Wein trinkt: berauschend.

Wie Balsam

Als Hauptverantwortlicher für diesen akustischen Hochgenuss muss Leo Hussain genannt werden. Wie differenziert und sinnlich der Brite zusammen mit dem RSO Wien Jules Massenets Thaïs – genau: die Oper zum Geigenschmachthit Méditation – zum Leben erweckte, war erstaunlich. Schon der stete Fluss des Orchestervorspiels bezauberte mit einer singulären Mischung aus Wärme, Intensität und Leichtigkeit. Wie Balsam auch der Streicherklang, mit einer kraftvollen Cellogruppe als Herznote.

Der 42-Jährige führte das Orchester unerhört versiert durch seinen ersten Massenet, mit der professionellen Nonchalance eines Michael Niavarani. Mal Hintergrundmusik, mal treibende Kraft, im einen Moment straff, im nächsten sinnlich, dann seelenvoll: Das RSO wechselte seine emotionale Disposition im Sekundentakt, immer auf geschmeidige und natürlich Weise. Hussain schuf eine Thaïs, deren schlanke Faktur mit dem Publikumsraum des Theaters an der Wien korrespondierte; die Opulenz des Uraufführungsortes von 1894, der Pariser Garnier-Oper, blieb glücklicherweise akustisch außen vor.

Wüstenkarge Szenerie

Auch auf szenischem Gebiet wurde kalorienreichem Kitsch abgeschworen, Peter Konwitschny inszeniert das (gekürzte) Werk mit homöopathischem Requisiteneinsatz vor einem schlichten Rundhorizont-Vorhang. Das (schwache) Libretto von Louis Gallet erzählt (nach dem gleichnamigen Roman von Anatol France) vom Widerstreit, vom ewigen Ringen zwischen Erregung und Entsagung, verkörpert von der alexandrinischen Hetäre Thaïs und dem Mönch Athanaël.

Die gegensätzlichen Protagonisten werden zu kommunizierenden Gefäßen: Während Thaïs ihren Lastern abschwört und immer heiligengleicher wird, verfällt der Mönch am Ende dem Fleisch (von Thaïs). Der Regie-Altmeister nimmt die Figuren ernst und macht sie kaum je zu Karikaturen; in der wüstenkargen Szenerie erquicken manche Kostüme von Johannes Leiacker (auch Bühne) das Auge.

Eine Handvoll

Nicole Chevalier bewältigte die anspruchsvolle Partie der bekehrten Edelprostituierten mit ihrem wendigen und höhensicheren Sopran souverän; Josef Wagner gestaltete die langen Kantilenen des Athanaël mit edler Eindringlichkeit. Geschmeidig und glänzend wie geschmolzene Butter der Tenor von Roberto Sacca (als Thaïs’ Geliebter, Athanaëls Jugendfreund und Geldsack Nicias).

Warum ein Opernbesuch in Zeiten der pandemischen Platzverweise? Das Theater an der Wien hatte eine Handvoll (negativ) getesteter Musikjournalisten zur Aufzeichnung geladen – aufgrund des verlängerten Lockdowns werden Vorstellungen vor Publikum für Ende Februar oder den Frühsommer erwogen. (Stefan Ender, 22.1.2021)